Thilo Sarrazin progostiziert der ganzen Bundesrepublik eine Allparteienregierung in Bund und Ländern unter moralischer Führung der Grünen: mit einem grünschwarzen Machtzentrum in Stuttgart, Düsseldorf und Kiel statt in Berlin; weil die Grünen so die Bundesratsmehrheit organisieren können. Das ist eine kluge strategische Analyse. Aber sie kommt wie auch die gegenteilige taktische Sicht von INSA-Chef Hermann Binkert, dass es für die Grünen hochgefährlich wäre, die Ampel in Berlin durch Schwarzgrün in Düsseldorf zu konterkarieren, über die Parallelgesellschaft der Oberklasse von Medien, Politik und ihrer organisierten „Zivilgesellschaft“ nicht hinaus.
Teilweise außerhalb der Oberklassen-Blase beleuchtet Max Mannhart den Erfolg der Grünen nicht als Generationenfrage – CDU und SPD hätten die Inhalte der Grünen ohnehin schon übernommen und ihre eigenen Positionen geräumt: Als großen Verlierer sieht er die FDP, die bei der Bundestagswahl bei Erstwählern wegen ihrer Kritik der Corona-Politik erfolgreich war und durch ihre 180-Grad-Wende genau in der Corona-Politik jede Glaubwürdigkeit verloren habe.
Sarrazin streift die Signalfrage Wahlbeteiligung zwar, aber in den Vordergrund, in den sie gehört, stellte sie erst Mario Thurnes in seiner Rezension von Anne Will gestern abend. Laut Landeswahlleiter ging sie von 65,2 Prozent 2017 auf nun 55.5 Prozent zurück, sank also um fast 10 Prozentpunkte. 44,5 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Stimmrecht keinen Gebrauch.
Thurnes spießt es auf: Angesichts stillstehender Betriebe und wirtschaftlicher Not ist der Obergrünen Ricarda Lang Wunsch von NRW als „erster klimaneutralen Industrieregion Europas“ eine Sternstunde des Zynismus. Diese Repräsentantin der Oberklassen-Blase markiert damit hochsymbolisch die Mauer zwischen Oben und Unten. Die da unten sehen die da oben nicht einmal, denn das wirkliche Leben der Leute, ohne deren Arbeit und stillem Funktionieren die da oben nicht ihr bequemes Leben führen könnten, findet in einer anderen Welt statt, zu der die Oberklasse keinen Zugang hat. Mit dem Existenzsprung vom nie sein Leben verdient haben müssen zum Berufspolitiker ist eine Mutation verbunden – und Mutationen sind nicht nur biologisch, sondern auch sozial irreversibel.
Der archimedische Punkt der Berliner Republik sind die Parteien in ihrer noch totaleren Besitzergreifung von Staat und Medien, Wirtschaft und Gesellschaft als in der Bonner Republik. Einer Inbesitznahme durch den Parteienstaat, in dem jede Beschränkung und Kontrolle von Macht Stück für Stück verloren ging und weiter geht. Sarrazins Perspektive der Allparteienregierung in Bund und Ländern unter moralischer Führung der Grünen ist die bisher totalste Ausformung des deutschen Parteienstaats: Wahlen sind da nur noch da, um Karrieren von Berufspolikern zu entscheiden. Um Richtung oder Inhalt von Politik geht es nicht.
Über die 44,5 Prozent der Nichtwähler wissen wir nichts, weil sich für sie keine Meinungsforscher interessieren, da sie dafür keine Aufträge aus der Oberklasse erhalten. Je weniger Wahlbeteiligung, desto besser für die Grünen, denn das macht den Weg zur Mehrheit in der Minderheit leicht.
Die Republik zerfällt mehrfach in Parallelgesellschaften: horizontal in Oberklasse und Unterklasse, vertikal innerhalb der Unterklasse in die schon lange, länger und neu hier Lebenden, die sich in befestigten und unbefestigten Vierteln selbst organisieren und tendenziell auch selbst regieren – begleitet von einer Stadtflucht der schon länger hier Lebenden und Assimilierten.
Wer es vor NRW nicht wusste, könnte es nun vielleicht sehen. Eine Korrektur des real existierenden Parteienstaats und des ihn verursacht habenden Regelwerks der Parteiengesetzgebung ist unter ihren Bedingungen nicht möglich. Zeit für eine Diskussion über die Frage: wie dann? Einige TE-Autoren haben zugesagt, daran mitzuwirken.