Dass sich Links und Rechts streiten, ist nicht neu. Auch wenn längst nicht mehr so klar ist, was rechts und links bedeutet. Mit jedem Tag des alles beherrschenden Themas Migration fällt mir eine andere Unterscheidung der öffentlichen Lager mehr auf. Die schärfsten Vertreter der Fraktion „Alle rein“ und der Fraktion „Alle raus“ bilden eine gemeinsame Gruppe: In dieser geht es nur noch um die Identifizierung und Verurteilung derer mit der falschen Meinung.
Zur Frage, wie Deutschland mit der großen Zahl der Zuwanderer konstruktiv fertig wird – in der ersten Phase der Unterbringung und Versorgung, in der zweiten der Integration, in der dritten des Familiennachzugs und der Rückführung – äußern sich die Jäger des verlorenen Schatzes der einzig wahren Meinung nicht. Auch in den Medien sind Beiträge mit Lösungsvorschlägen rar. Bei Lichte besehen drehen sich die Wortmeldungen seit Wochen im Kreis.
Nichts ist klar, nicht in Berlin, nicht in Brüssel
Die Beschlüsse von Regierung und Parlament sind weit entfernt von jeglichen Konsequenzen in der täglichen Wirklichkeit. Auch in Brüssel ist es wohlfeiler, auf die Osteuropäer als unsolidarisch bis fremdenfeindlich mit dem Finger zu zeigen, als in der Türkei und Griechenland akzeptable Plätze für Hunderttausende zu schaffen. In Deutschland ist von der Kanzlerin Ankündigung der neuen deutschen Flexibilität beim Wohnungsbau in der Bauwirklichkeit nichts angekommen.
Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen glänzen wie die Kirchen durch Schweigen. Wo sind in der Staatskrise ihre Lösungsvorschläge und Hilfsangebote? Es gibt derzeit nur zwei Gruppen, die aktiv sind in der viel zitierten großen Herausforderung, die freiwilligen Helfer und Öffentlichen Bediensteten, die ihr Bestes geben. Ohne beide wäre das politische Kartenhaus längst ganz zusammengebrochen.
In den bisherigen klassischen Medien und den Social Media finden diese Aktivisten nur am Rande statt. Sie selbst haben begreiflicher Weise keine Zeit, für Nachrichten über sich zu sorgen. Das laute öffentliche Geräusch beherrschen die Rechthaber. Negative Gerüchte, die die eigene Position scheinbar bestätigen, werden ungeprüft weiter verbreitet: wie früher am Dorfbrunnen dichtet jeder noch etwas dazu, um die Story noch Entrüstungs-trächtiger zu machen. Stellt sich das Gerücht dann als falsch heraus, ist es niemand gewesen.
Der Pranger-Wettbewerb ist voll entbrannt. Je weniger in der Politik weitergeht, desto heftiger wird die gegenseitige Beschuldigung, Verteufelung und öffentliche Hinrichtung. Das alles ist nicht plötzlich entstanden, es war alles schon da, jetzt tritt es zutage, bricht explosiv auf – Tabus halten nicht mehr. Mit den offenkundigen Notwendigkeiten umzugehen, ist schwer genug. In dieser Krise des Staates und der Gesellschaft täglich auf Gegnerjagd zu sein, drängt den Eindruck auf, dass diese Leute auf sehr warmen Sesseln sitzen und viel Zeit haben für den Wohlstandsluxus der Inszenierung ihrer richtigen Gesinnung. Um das Gemeinwohl machen sie sich dabei nicht verdient.
Wo bleibt der Wettbewerb um Lösungen?
Was wir in der Politik beobachten, ist auch nicht jetzt plötzlich entstanden, sondern war alles schon da, jetzt wird es nur offenkundig und unübersehbar. In der politischen Landschaft wird ein Parteien-Einheitsbrei serviert: die unterschiedlichen Suppentassen-Farben können über denselben Geschmack des nationalen Eintopfs nicht mehr hinwegtäuschen. Die Aufstellung für die kommenden Wahlkämpfe ist klar: AfD, ALFA – und was da noch kommen mag – gegen die Bundestagsparteien plus FDP.
Wie auch immer das im Detail ausgeht, danach geht es mit einer neuen großen Koalition weiter, die man so dann nur noch nennen kann, weil sie aus mindestens vier Parteien besteht. Ob eine solche die nächste Legislaturperiode ganz durchsteht, darf bezweifelt werden. Zumal zur deutschen Politikkrise, die zur Staatskrise wird, in der EU die Systemkrise hinzukommt. Wieviel Suspendierung von Rechtsstaat und Demokratie in Deutschland braucht es noch bis zur heimischen Systemkrise?
Findet sich keine Personenkonstellation, die in der Krise die Chance ergreift, viele alte Fehler zu korrigieren und die Weichen für Morgen wirklich neu zu stellen, werden wir schmerzhaft erkennen müssen, dass die Probleme von heute nur die Spitze des Eisbergs waren. Dann wird der Wohlstand für beide nicht reichen, die schon da waren und die dazugekommen sind.
Wir haben Vormärz und die linken Linken wie die rechten Rechten beharren auf ihrem alten und neuen Biedermeier. Wir haben eine vorrevolutionäre Situation. Nur wo sind die Revolutionäre?