Tichys Einblick
Augen zu ist keine Strategie

Von der Staatsverwahrlosung in die Verfassungskrise

Das Gemeinwesen treibt Richtung Verfassungskrise: ebenso treffend wie den Verantwortlichen völlig fremd. Nichts könnte ein schärferer Kontrast zu diesem erschreckenden Befund sein als das tägliche Koalitionsgeschwätz.

© Michele Tantussi/Getty Images

„Nix für ungut“, kommentiert ein Leser den Artikel von Michael Stürmer auf Welt online, „was Sie schreiben, weiß der Achse- und Tichy-Leser seit 2 Jahren.“ Dieser Leserkommentar sammelte auf WON die beste Bewertungszahl.

Stürmer bürstet seit August 2015 auf Welt online gegen den Strich der veröffentlichten Meinung. Also praktisch zeitlich parallel mit Tichys Einblick. Seine Botschaft „Die Völkerwanderungen sind unumkehrbar“ kontrastiert radikal mit der Ignoranz einer Angela Merkel:

Stürmer: «Migration kennt die Welt seit ihren Anfängen. Aber im Zeitalter der Globalisierung sind die Menschen mobiler denn je. Es wird weitergehen. Was wir erleben, ist humanitärer und politischer Ernstfall.»

Merkel: «Jetzt sind sie halt da.»

In seinem aktuellen Beitrag konstatiert Michael Stürmer (Hervorhebung von mir) den unfreiwilligen Offenbarungseid des Parteienstaats, der auf die Verfassungskrise hintreibt:

«Eine dreifache Legitimationskrise bedroht die Rechts- und Verfassungswirklichkeit in deutschen Landen, wie sie lange galt und nunmehr, wenn man die Lässigkeit im Umgang wahrnimmt, offenbar nicht mehr gilt. Ein Staat aber, der sich selbst nicht respektiert, seine Staatsräson ignoriert und die Zustimmung seiner Bürger verliert, kann nicht dauern. Noch ist es nicht so weit. Aber auf der dahintreibenden „MS Deutschland“ hört man das Donnern der Stromschnellen voraus.»

Im Januar 2016 warnte Stürmer „Europa erlebt den Ernstfall“: „Der Exzess von Köln, der Terrorist, der ein Asylbewerber aus Recklinghausen war: Die Blicke in Europa richten sich zweifelnd und vorwurfsvoll auf die Bundesregierung und die deutschen Behörden.“ Er schrieb explizit:

«Es gibt eine Lage vor Köln, Düsseldorf, Recklinghausen und so weiter und eine Lage danach. Letztere ist in Abwandlung eines traurigen alten Kinderreims zu beschreiben: Schengenland ist abgebrannt. Was auf dem Spiel steht, ist mehr als die öffentliche Sicherheit und Ordnung an einem zentralen symbolischen Ort des Landes wie dem Eingang zum Kölner Dom.

Die Bundesregierung muss sich entscheiden, und sie muss handeln, ohne Verzug. Sie kann entweder Schengen retten oder das deutsche Asylrecht, das die Bundeskanzlerin, komme, was da wolle, als quantitativ unbegrenzbar ausgibt. Beides zusammen geht nicht – rechtlich nicht und politisch auch nicht.»

Wer nahm das auf im politisch-medialen Komplex, sie kann Schengen retten oder das deutsche Asylrecht? Niemand.

Akute Ignoranz
Politisch gewollte Staatsverwahrlosung
Im August 2016 wies Stürmer auf den Kern des Zuwanderer-Themas hin, den das ganze politische Spektrum, die dazu gehörenden Medien, Gewerkschaften, Verbände, Kirchen und anderen NGOs ausnahmslos ignorieren. Es war der Ruf der deutschen Industrie, der Merkel und Co. zu ihren verheerenden Fehlentscheidungen und fehlenden Entscheidungen anspornten – und nichts sonst. Der „humanitäre Imperativ“ und alle anderen Begründungen und Deutungen haben sich längst im unbestechlichen Wirklichkeits-Check in Luft aufgelöst. Stürmer erinnerte:

«Wie war es denn das letzte Mal, als dem deutschen Wirtschaftswunder die fleißigen Hände zu fehlen begannen? Am 13. August 1961 mauerte die DDR, gedeckt durch die Sowjetmacht, eine Mauer quer durch Berlin, um am Rande des Atomkrieges die Massenflucht der Bevölkerung aus Deutschland nach Deutschland zu stoppen.

Die Antwort der Wirtschaft war Werbung in Süditalien, Jugoslawien, Griechenland. Man importierte Arbeit und vergaß die Menschen, die darauf warteten, dass ihre Seele nachkam in die Kälte des Nordens.

Wer kann ermessen, wie viel schwieriger der Prozess heute wird, wo viel mehr Menschen in viel kürzerer Zeit ankommen, alle aus viel fremderen Wertewelten? Es ist eine technokratische Selbsttäuschung, dass jeder und jede allüberall austauschbar wäre.

Beispielsweise einem verwöhnten Macho beizubringen, dass hierzulande Frauen etwas zu entscheiden haben, wird Schmerzen machen, nicht immer und überall, aber oftmals. Es handelt sich um ein soziales Experiment am lebenden Herzen, kaum steuerbar in den Auswirkungen und unumkehrbar.»

Ja, all das und noch viel mehr Schmerzhaftes ist inzwischen eingetreten. Und doch sind es nach wie vor nur ganz wenige, die es einsehen und aussprechen oder gar ernsthaft Wirkungsvolles unternehmen wollen. Das Land hat eine politisch-gesellschaftlich-wirtschaftliche Oberschicht, die offensichtlich glaubt, sich durch Wegschauen aus der Affäre ziehen zu können, die schon irgendwie vorbeigehen werde. Institutionalisierte Verantwortungslosigkeit ist der gemeinsame Charakterzug dieser Leute. Sie steuern auf eine Verfassungskrise hin und merken es nicht.

Stürmer erinnerte damals an ein paar Wahrheiten, deren Abwesenheit bei den Personen und in den Institutionen sprachlos machen müssen:

«Es macht den Westen aus, dass seit den Exzessen der Religionskriege des 17. Jahrhunderts der Staat die Religion zähmte und in Verwahrung nahm, während der Islam sich bis heute durch ein Frageverbot gegen Zweifel und Wandel schützt.

Die Auswirkungen reichen von technisch-wissenschaftlicher Rückständigkeit einer einstmals blühenden intellektuellen Kultur bis in die Herrschaftsformen der arabisch-islamischen Welt, ins Privat- und Familienrecht.

„Wir schaffen das“ – hinter dem rätselvollen Kanzlerwort verbirgt sich eine säkulare Aufgabe mehr von Jahrzehnten als von Jahren, die furchtbar missglücken kann. Die Rolle der Religion und ihrer Ausprägungen im Alltag als Restwert zu behandeln, ist vordergründig aufgeklärt. Doch wer gegen die Prägekraft der Religion wettet, tut es auf eigene Gefahr.»

Zurück zum aktuellen Text von Michael Stürmer. Er schreibt abschließend:

«Ein deutscher Sonderweg tut sich auf, wie ihn alle früheren Regierungen strengstens zu vermeiden wussten. Das Gutseinwollen – den Völkern leuchtendes Beispiel, ohne sonderliche Rücksichtnahme auf aufsteigende Zweifel, rechtliche Normen und allfällige Verwahrungen – hatte seinen Preis. Er besteht in einer strukturellen Dauerkrise, die nicht so bald besseren Zeiten weichen wird … Es gibt eine Hybris des Guten im Übermaß, und sie ist eine sehr deutsche Versuchung.

Geschichte wiederholt sich nicht. Bonn war nicht Weimar, und die Berliner Republik wird auch nicht dem Weimar-Schicksal folgen, von Anfang an belagerte Civitas zwischen Weltkrieg und Großer Depression, mit schwachen Regierungen und ungezähmten inneren Konflikten.

Nein, so wird es nicht kommen. Es wird diesmal ganz anders sein. Entgrenzung ist am Werk. Immer aber gilt, dass eine Republik ohne Republikaner nicht von Dauer sein kann. Die Politiker zeigen sich überfordert. Unterdessen treibt das Gemeinwesen in Richtung Verfassungskrise.»

Das Gemeinwesen treibt Richtung Verfassungskrise. Eine ebenso treffende Feststellung wie den Verantwortlichen völlig fremde Erkenntnis. Nichts könnte ein schärferer Kontrast zu diesem erschreckenden Befund sein als das lächerliche veröffentlichte Koalitionsgeschwätz, dem die ganz Medien-Landschaft hinterherläuft wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln im Märchen.

Michael Stürmers Beiträge wie die von Stefan Aust und nun das viel genannte Wort von Steinmeier zur Unterscheidung von Flucht und Wohlstandszuzug sollte niemand für eine unmittelbar bevorstehende Politikwende halten.

Ich bin ein chronischer Optimist. Aber das hinderte mich nie an realistischen Einschätzungen. Ein Rechtsstaat lässt sich politisch dramatisch schneller verwahrlosen als wiederherstellen. Ein Reset-Knopf steht nicht zur Verfügung. Neubau ist angesagt. Eine Verfassungskrise ist nur von Grund auf heilbar. Mit Reparaturen ist hier nichts getan. Der Parteienstaat muss einer neuen Ordnung weichen oder es wird keine geben.

Die mobile Version verlassen