Jakob Augstein sagte in seiner Kolumne zum Stichwort Özil unter anderem das Folgende, was mir die Gelegenheit gibt, ihn und andere seiner Zunft auf etwas aufmerksam zu machen. Dazu muss ich zwei Stellen zitieren, um verständlich zu sein (Ihre Befindlichkeit den Zugereisten und den Hiesigen autoritär verordnen zu wollen, kann ich nur als kolonialherrlich bezeichnen, sei am Rande erwähnt.):
- »Er ist ein Deutscher mit Migrationshintergrund, der aber durch die niederschmetternde Dummheit und Borniertheit der Strobls und Bierhoffs regelmäßig zum Migrationsvordergrund wird. An solcher Dummheit und Borniertheit können jahrelange Bemühungen um Integration im Handumdrehen zerschellen.
- Und sie wissen auch, was Özil meint, wenn er sagt: „Ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches.“ Ja, so ist das, wenn man eine vielfältige, reiche, unklare, gebrochene Identität hat. Solche Identitäten gehören zu einer Einwanderungsgesellschaft. Sie machen sie lebendig, spannend, anstrengend, herausfordernd. Umso besser. Aber es gibt immer noch ein Deutschland, das damit nichts anfangen kann und will.«
Nun bin ich auch ein »Deutscher mit Migrationshintergrund«, auch wenn die meisten sagen würden, ja, aber ein österreicherischer, das ist doch was anderes als ein türkischer, das ist doch innerhalb desselben Kulturkreises. Ja, aber, wie Sie gleich sehen werden.
Als ich 1966 nach Bonn kam, war meine Sprachmelodie noch hörbarer eine andere als später. Nord- und Süddeutsche konnte ich an einer Frage schnell auseinanderhalten. Fragte einer, ob ich aus Bayern bin, kam er aus dem Norden, wollte einer wissen, ob ich aus Österreich bin, kam er aus dem Süden.
In meinem Selbstverständnis kam ich als Steirer (die Norddeutsche Steiermärker zu nennen pflegen), nicht als Österreicher, in die alte Bundesrepublik, deren Staatsbürger ich mit Pass verbrieft wurde. Als die DDR der BRD beitrat, war ich in meinem Selbstverständnis längst Österreicher geworden.
Dass der Prozess der Österreicher-Werdung des Steirers mit deutschem Pass früh einsetzte, verdanke ich bestimmten deutschen Journalisten. Wenn ihnen politisch an mir etwas nicht passte, vergaßen sie nie zu erwähnen, dass ich ja Österreicher wäre. Der deutsche Pass „schützte” davor nicht. Ich bin diesen Damen und Herren sehr dankbar. Sonst hätte ich vielleicht erst viel später entdeckt, dass mein österreichisches Herz stärker schlägt als mein deutsches.
Es waren nie „normale” Hiesige und Zugereiste, die meinen Migrationshintergrund zum Thema machten. Es waren „linksliberale” deutsche Journalisten. Deutscher war ich für sie nur, als ich ihre Meinungen teilte. Als ich anfing, ihre Meinung nicht mehr nur teilweise, sondern grundsätzlich zu kritisieren und infrage zu stellen, war ich plötzlich trotz deutschem Pass Österreicher.
Aktivisten, die sich für Journalisten halten, haben meinen Migrationshintergrund in dem Moment zum Migrationsvordergrund gemacht, als ich ihnen nicht (mehr) genehm war. Danke für die wertvolle Lektion.
Mit den „guten” und „schlechten” Deutschen ist das nicht anders. Die „schlechten” haben sozusagen einen politischen Migrationshintergrund als Migrationsvordergrund. Augstein drückt das nur umständlicher aus und am Ende doch klar:
»Aber es gibt immer noch ein Deutschland, das damit nichts anfangen kann und will.«
Gar nicht umständlich, dafür kolonialherrenhaft arrogant ist diese eingangs genannte Passage bei Augstein:
»Ja, so ist das, wenn man eine vielfältige, reiche, unklare, gebrochene Identität hat. Solche Identitäten gehören zu einer Einwanderungsgesellschaft.«
Was »man« mit Migrationshintergund als Migrationsvordergrund zu haben hat, ob das eine vielfältige, reiche und/oder unklare, gebrochene Identität ist, obliegt nicht der Anordnung von Jakob Augstein und Gleichgesinnten. Identitäten haben die Eigenschaft, dass sie unabänderlich individuell sind.
Noch schlimmer bei Augstein ist das:
»Solche Identitäten gehören zu einer Einwanderungsgesellschaft. Sie machen sie lebendig, spannend, anstrengend, herausfordernd. Umso besser.«
Unklare und widersprüchliche Identitäten sind lebendig, spannend, anstrengend, herausfordernd: Anstrengend und herausfordernd? Ja, für den Einzelnen. Lebendig und spannend? Für Augstein im weichen Denksessel. Umso besser? Für Augsteins Kolumnenstimmung. Bei dieser Kolumne hätte mehr herausfordernde Anstrengung dem Ergebnis besser getan.
In Wahrheit lässt sich die von Augstein pars pro toto repräsentierte Einstellung sehr einfach zusammenfassen. Nicht die 68er selbst, die ja 67er waren, sondern jene, die sich gleich danach zu ihren Bannerträgern ausriefen, fühlen sich seit den 1970ern von allen gestört, die sich nicht in ihre romantische Wohlstandsweltsicht einordnen: Von den alten Konservativen in der Union und in der SPD der Bonner Republik, deren politischen Verwandten im „Beitrittsgebiet” (weiland DDR) und denen, die sich vom Medienbombardement der Neu-68er nicht auf ihren allein „richtigen” Weg bringen lassen wollen: also dem Deutschland, das nach Augstein mit der lebendigen, spannenden, anstrengenden, herausfordernden Einwanderungsgesellschaft nichts anfangen kann und will.
Doch diese Uneinsichtigen „sind halt da” und ihr Recht, da zu sein und so zu bleiben, wie sie wollen, weil sie bisher auch so waren, steht nicht zur Verfügung jener, die in der Bonner Republik die Meinungshoheit in Parteien und Medien erobert haben – nicht durch demokratische Debatten und Abstimmungen. Und die Meinungshoheit in der Berliner Republik mit Zähnen und Klauen verteidigen.
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Birgit Kelle schildert ihre eigenen Erfahrungen hier: