Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Christoph Heusgen soll mit großer Sorge auf eine mögliche erneute Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten blicken. „Wir haben erlebt, wie Trump in den vier Jahren im Amt agiert hat, deshalb dürfen wir uns keine Illusionen machen, im Gegenteil: Wir müssen uns warm anziehen“, sagte der ehemalige Sicherheitsberater der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dem „Stern“.
Für den Fall einer erneuten Wahl rät Heusgen zu tun, was auch Merkel seinerzeit getan habe: „Man muss versuchen, sich zu arrangieren.“ Deutschland könne nicht sagen, mit diesem US-Präsidenten wolle man nichts zu tun haben. Heusgen empfiehlt dem jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz, Kontakte ins republikanische Lager zu suchen.
„Die Regierung darf nicht darauf bauen, dass Biden ewig Präsident bleibt.“ Im Falle einer Wahl Trumps rechnet Heusgen damit, dass die USA ihre Unterstützung im Ukraine-Krieg reduzieren könnten. „Da höre ich schon einen Präsidenten Trump sagen: ‚So geht das nicht weiter, bei Russlands Angriff auf die Ukraine steht die europäische Sicherheit auf dem Spiel, also müssen die Europäer die Hauptlast tragen.‘ Das kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.“
Auch künftige US-Präsidenten, die „transatlantischer“ denken als Trump, würden verlangen, dass sich Europa in erster Linie eigenverantwortlich um seine Sicherheit kümmere. Heusgen fragte, wie man „einem Durchschnittsamerikaner“ erklären solle, dass die USA 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben und Deutschland bei vergleichbarem Lebensstandard nur 1,5 Prozent.
Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts Siena für die „New York Times“ gäben etwa gleich viele Wahlberechtigte an, für Trump oder für Biden stimmen zu wollen. Durch die indirekte Wahl über Wahlmänner werden die Stimmen allerdings nicht rein proportional gewertet. So hätte 2016 Hillary Clinton deutlich mehr Stimmen als Donald Trump erreicht, aber dennoch die Wahl verloren.
Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), der seit 2019 Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke ist, geht davon aus, dass Trump außenpolitisch fortsetzen würde, was er in seiner ersten Amtszeit begonnen habe, und auch das US-Engagement in der Nato zurückfahren würde. „Er könnte natürlich einfach die Finanzmittel kürzen und damit die Nato extrem schwächen. Europa stünde allein da.“ Für potenzielle Angreifer sei das geradezu eine Einladung, die Abwehrbereitschaft zu testen, wenn die Führungsnation wackelt. „Und bis Europa sich allein verteidigen kann, dauert es sicher noch zehn Jahre“, sagte Gabriel.
Der SPD-Politiker fordert daher, dass Europa selbstständiger werden müsse. „Es kommt darauf an, Europa wirtschaftlich, politisch und militärisch stärker werden zu lassen. Das muss das wichtigste außenpolitische Ziel Deutschlands sein.“ Besonders in einer Frage sieht Gabriel deshalb Handlungsbedarf: „Das heißt vor allem, alles dafür zu tun, dass unser Verhältnis zu Frankreich wieder deutlich besser wird.“
Also die Herren Heusgen und Gabriel: US-Präsidenten haben ihre Politik noch nie „transatlantisch“ ausgerichtet, sondern stets im Interesse der USA. „Transatlantisch“ ist die Formel für Forderungen an europäische Regierungen. „America first“ wird zwar mit Donald Trump verbunden, der das zu einem seiner Slogans machte, aber es gab noch nie einen US-Präsidenten – und wird nie einen geben –, der nicht nach „America first“ handelte. Was diesem Amerika nützt, da gab es Unterschiede zwischen den Präsidenten, aber weit hat sich keiner von den US-Interessen entfernt, die Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 in seiner Abschiedsrede einem „militärisch-industriellen Komplex“ als bestimmendem Urheber zuschrieb.
„Bei dem Begriff ‚Weltmacht‘ denken viele Menschen immer noch in nationalen Kategorien“, schreibt Raymond Unger in seinem neuen Buch: Man diskutiere die Ablösung der „Weltmacht USA“ durch die neue „Weltmacht China“ und frage sich, welche Rolle Russland und Indien dabei spielen könnten. Doch spätestens die Corona-Krise habe gezeigt, dass ganz andere Mächte im Hintergrund wirkten, wodurch sich die nationale Machtvorstellung als anachronistisch entlarve.
Teile der USA arbeiteten mit China zusammen – andere nicht. Die wirkliche Weltmacht bestehe heute vielmehr in der Allianz aus den großen Vermögensverwaltern der Wall Street und den Digitalkonzernen des Silicon Valley. Diese wiederum seien Anteilseigner globaler Pharma-, Biotech-, Waffen-, Öl-, Nahrungsmittel- und Medienkonzerne. Die Vorstellung, dass souveräne, demokratische Staaten ihre originären Interessen gegen diese globalen Kartelle durchsetzen könnten, sei ein bewusst gesetztes Narrativ – ein falsches.
Was Unger in Erweiterung der Eisenhower-Formel vom „militärisch-industriellen Komplex“ beschreibt, braucht wie jedes Kind einen Namen: ich taufe es auf „Globale Klasse“. Ihre Angehörigen kümmern sich weder um die Funktionärsbesatzungen von UNO, EU und Nationalstaaten, die ohne, mit wenig und oft entkernter Demokratie und keinem gleichen Recht für alle. Sie benutzen diese Funktionärsherrschaften und ihre Hilfswilligen in Medien sowie vielen Regierungs- und Nichtregierungs-Organisationen, von denen sich viele, meist die unwichtigsten Abgesandten auf dem Jahrmarkt WEF in Davos die Hand geben.
Wie kommt man einem informellen Netz bei, das systemunabhängig quer durch alle Institutionen und Organisationen, seine Geschäftsinteressen verfolgt? Nicht „von oben“, denn dort ist kein Gegengewicht möglich, aber „von unten“ durch die Selbstorganisation von freien Bürgern in kleinen Einheiten, die sich lokal der „Globalen Klasse“ entziehen.
Ein weites Feld für eine umfassende Diskussion, die über den Tellerrand der täglichen Berichte hinausreicht, in dem alle immer noch so tun oder nicht merken, dass über den Zeitgeist nicht in Nationalstaaten oder der EU entschieden wird.