Auf die Paid-Content-Strategie der New York Times berufen sich gerade auch deutsche Verleger und Chefredakteure gern. Nach dem Motto, geht doch, Inhalte lassen sich sehr wohl verkaufen, wir müssen uns nur trauen und die Gratiskultur beenden. Die schlechte Nachricht: nytnow, die App der New Yorker Zeitungs-Ikone, gibt es ab sofort kostenlos, der Abo-Preis von acht Dollar im Monat für die “wichtigsten und interessantesten Geschichten” aus der NYT und anderen Quellen entfällt.
Roland Tichy wies hier vor kurzem die journalistische Zunft auf die simple Tatsache hin, dass sich die Zeiten ändern: „… wenn ich durch das Ruhrgebiet fahre, dann sehe ich riesige Industriebrachen, wo früher stolze Stahlwerke und grandiose Zechen den Menschen Lohn und Brot, Stolz und Ansehen gaben. Wir Journalisten haben darüber geschrieben, wie das Ende kam. Warum soll es uns anders ergehen? Warum wollen nur wir arbeiten wie vor 100 Jahren?“
Kaiser Wilhelm der Letzte glaubte an das Pferd und hielt das Automobil für eine vorübergehende Erscheinung. So ähnlich ist es mit Medienkönigen, die sich ihre Welt nur von Werbung finanziert und mit Journalisten, die sich nur die „Vollzeitung“ für Abonnenten und Kioskkäufer vorstellen können und nur das „Vollprogramm“, zu dem „die Menschen da draußen an den Bildschirmen“ pünktlich zu den festgelegten Zeiten ansitzen.
Pferd, Kutsche und Autos gab es eine ganze Weile nebeneinander. Dann schien das Pferd bis auf den Turnier- und Rennsport in den Industrieländern zu verschwinden, bis es in der Freizeit vieler, meist nicht wohlhabender Menschen ein großes Comeback erlebte. Und die Pferdekutsche hat florierende Nischen. Die ebenfalls florierende Lifestyle-Zeitschrift Landlust erinnert mich immer wieder an die Frage, warum es noch nichts Vergleichbares für die große Zahl der Freizeit-Reiter und Pferdefreunde gibt. Reit- und Pferdemagazine gibt es viele, aber ein Publikumsmagnet, wirtschaftlich erfolgreich wie die Landlust, ist nicht darunter.
Die News-Schwemme: Desinformation und Empörung
Alain de Botton sprach mit dem Schweizer Monat über „das Hamsterrad des Nachrichtengeschäfts“ und sagte: „Der Nachrichten-Hub hat dabei die institutionelle Amnesie der Unfall- und Notaufnahme eines Krankenhauses über Nacht: die Blutflecken sind bei Sonnenaufgang weggewischt und die Erinnerungen an die Toten gelöscht. Egal aber, ob es um Erdrutsche in den Anden oder die Demütigung eines einst mächtigen Politikers in Nigeria geht: jeden Morgen beginnt die ganze News-Kakophonie auch in der Schweiz von neuem, und zwar, obwohl hier keiner etwas damit zu tun hat – oder etwas damit anfangen kann.“
Die Informationsflut ist nur eine scheinbare, sagt de Botton. Sie reduziert sich auf wenige Muster, die endlos wiederkehren. Beispiel: „Männer in verantwortungsvollen Positionen kriegen Probleme, weil ihre sexuellen Wünsche sie zu Dingen verleiten, die, wenn veröffentlicht, beschämend sind. Was hier als Stoff von vier News-Stories daherkommt, ist genau besehen nur eine Geschichte, die mit verschiedenem Personal durchgespielt wurde.“
Überlegen wir einmal selbst, auf wie viele News-Stories auf der täglichen Empörungsskala das zutrifft. Auf die absolute Mehrheit. Vergegenwärtigen wir uns, dass diese Geschichten selbst in den Formulierungen aus immer denselben Versatzstücken bestehen. Beobachten Sie sich mal über eine Woche in ihrem Nachrichtenkonsum: Eine derartige Wiederholungshäufigkeit würde niemand in seiner Lieblings-TV-Serie hinnehmen. Aber in den TV-Nachrichtensendungen fressen wir die ewig gleichen rituell formulierten Geschichten, bloß mit wechselnden Darstellern und Drehorten. Und oft den identischen Filmsequenzen quer durch alle Sender.
Wer die wenigen, ewig wiederkehrenden Muster der Geschichten einmal erkannt hat, kann sich viel Lese-, Seh- und Hörzeit sparen. Dass es nicht zum journalistischen Repertoire gehört, diese Muster selbst kritisch offenzulegen, liegt für de Botton am Interesse der Medienvertreter, „denn wüssten genug Menschen davon, würden erst die Konsumentenzahlen vieler Medien sinken – und dann ihre Werbeerträge.“
Hinzu kommt meiner Beobachtung nach, dass viele sich gern täglich in ihrer sozialen Gemeinde versichern, derselben Meinung zu sein. Emotional geht das am besten, wenn man sich gemeinsam über jene empört, die einer anderen Gemeinde angehören oder gar ihre Anführer, die etwas angestellt oder auf andere Weise gegen die Normen des Guten verstoßen haben. Die Masse der Info-Konsumenten fühlt sich im Hamsterrad der Nachrichten durchaus wohl.
Aber für diesen Massenkonsum braucht es das nicht, was wir Qualitätsmedien nennen. Gratismedien tun diesen Dienst mit kurzen, bunten, schrillen Info-Häppchen, schnell und leicht verdaulich. Mit dem Versuch der Qualitätsmedien, sich an diesem Hamsterrad zu beteiligen, sägen sie am eigenen Ast. Mit der Instant-Info-Maschine können sie nicht mithalten. Sie dreht sich zu schnell.
Wegwerf-News mit Ablaufdatum
- Tweets haben eine kurze Wirkungszeit. Statistisch finden 92% aller Aktivitäten um einen Tweet in der ersten Stunde statt.
- Twitter ist der Mitgliedsausweis im Klub der Früher-und-besser-Wisser.
- Twitter ist instant news – kurz nach Gebrauch wegzuwerfen.
- Facebook-Einträge starten Reaktionen und Gegenreaktionen, die sich Stunden, Tage und länger fortsetzen.
- Twitter ist real-time conversation – Facebook ist ongoing conversation.
- Um eine Person mit einem Thema in ein klassisches Medium zu bringen, ist Twitter der bessere Start. Facebook ist ein guter Platz für andauernde soziale Beziehungen, für die Bildung und Pflege von Gruppen. Mit Facebook transportiert man praktisch nichts in klassische Medien – aber umgekehrt funktioniert gut.
- Zwischen dem Forum auf SPON und Social Media gibt es Schnittmengen. Aber die Meinungs-Gruppen-Bildung wandert aus den Online-Foren der klassischen Medien immer mehr in Social Media aus. Tendenz: alle klassischen Medien mit eigenen Facebook-Auftritten.
- Wann entfaltet das Posten wo die meiste Wirkung? Twitter um fünf Uhr morgens, Facebook mittags, Twitter mittwochs, Facebook samstags.
- Instagram: instant-news-Plattform der Jüngsten.
“Facebook Instant Articles will launch with European partners The Guardian, BBC, Spiegel, Bild”
Diese Nachricht landet bei mir, während ich diesen Beitrag schreibe. Peter Turi dazu: „Selbstmord aus Angst vor dem Tod? Oder im Web ganz vorn? Springers ‚Bild‘ und der ‚Spiegel‘ geben ganze Artikel komplett an den Webgiganten Facebook, wo sie vollständig und ohne Link auf die Mutterseite veröffentlicht werden. In einer überraschenden Mitteilung, die Springer am Mittwochmorgen verschickt hat, jubelt die Pressestelle: ‚Millionen von Nutzern des Sozialen Netzwerks in Deutschland können künftig BILD.de-Angebote direkt in ihrem Facebook-News Feed lesen.‘”
Turi weiter: „Der Köder, mit dem Facebook die beiden deutschen Verlage für sein Programm Instant Articles wohl gefangen hat, schmeckt an zwei Stellen besonders gut: Die Werbung im Umfeld der Artikel dürfen die Verlage selbst vermarkten – und die Verlage sollen Nutzerdaten bekommen.“
Bitte nicht überlesen: Unsere Nutzerdaten kriegen die Verlage.
Ein radikal neuer Medienmix
Wir erleben in den nächsten Jahren, wie sich die Medien und der Journalismus, wie wir die beiden kennen, komplett verändern. Ein paar Prognosen:
- Die Trennung von Nachricht und Kommentar verzieht sich in eine klitzekleine Luxus-Nische von Kommunikations-Genießern.
- Für größere Minderheiten, die an Hintergründen, Analysen und Diskussion interessiert sind, entstehen – mehr online als offline – neue Formate: ein Profilierungsfeld für Markenartikler als offen deklarierte Sponsoren.
- Die alte Parteizeitung lebt als Meinungs-Richtungs-Medium in neuen Formaten wieder auf, die den Lifstyle-Gemeinden von Special-Interest-Magazinen entsprechen: für Parteien in gleicher Weise geeignet wie für NGOs und Interessenverbände – ein Eldorado für gute PR.
- TV-Geräte verschwinden erst als Nachrichtenträger und dann als Geräte aus den Wohnzimmern (die Wohnlandschaften der Zukunft haben sowieso keine Wohnzimmer).
- News entnimmt man morgen den Nachfolge-Geräten von iPhones und Tablets, die unauffällig in anderen Geräten verschwinden. Wir haben die Hände wieder frei.
Die Erkenntnis liegt eigentlich auf der Hand. Ein neues Medium hat die alten noch nie ganz verdrängt. Selbst auf Stein wird noch gemeißelt. Aber jedes neue Medium ändert den Medienmix. Eine radikal neue Technik, die man heute in merkwürdiger Adaption aus dem Englischen Technologie nennt, ändert den Mix radikal. Das tat der Buchdruck und das tun nun elektronische Bilder, Texte und Töne in Verbindung mit ihrem rasend schnellen und globalen Vertriebsweg Internet. Verleger scheinen oft zu vergessen, dass Verleger von Verlag kommt, also einen Vertriebsweg bezeichnet, nicht mehr, nicht weniger. Auch Internet ist kein neues Medium, sondern ein neuer Vertriebsweg: Aber einer, der die Anforderungen, welche die Nutzer an Medien stellen, radikal verändert.
Auch im neuen Medienmix wird es Print, bewegte und feste Bilder mit und ohne Töne, konventionell gesendet oder digital verbreitet, nebeneinander geben: die alten Formen für Minderheiten, die dafür hohe Preise nicht nur akzeptieren, sondern als wichtigen Teil ihres Lifestyles verstehen; die neuen Formen und Wege als Massenware scheinbar kostenlos. Die Masse bezahlt in Wahrheit teuer mit ihren Daten, die sie zum gläsernen Kunden machen: für Markenartikler, Produzenten, Lieferanten und Dienstleister (auch Polizei, Finanzamt und Geheimdienste), die ihrerseits den Internetmedien und vor allem den mit ihnen vernetzten Suchmaschinen die Daten der Kunden für viel Geld abkaufen.
Dem radikal neuen Vertriebsweg Internet folgt ein radikal neuer Medienmix. Der Einfallsreichtum der Medienschaffenden hinkt bisher noch arg hinterher. Aber plötzlich wird er explodieren. Wetten?