Markus Söder pflegt taktisch ein Alleinstellungsmerkmal, das medial durchaus wirksam ist. Er schmückt sich damit, dass er die einzige Landesregierung anführt, in der keine Ampel-Partei mitwirkt. Das verschafft ihm vor allem innerhalb der Union eine Sonderstellung, die er ausspielen will, wenn es dann später um die Medien-Figur des Kanzler-Kandidaten geht, den es nicht gibt, weil nicht die Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl, sondern nur die Abgeordneten im Bundestag einen Kanzler wählen können.
Sowohl in einer Koalition mit den Grünen wie der SPD und auch der FDP verlöre Söder dieses Alleinstellungsmerkmal. Das ist ein starkes Motiv, auch nach der Landtagswahl im Oktober mit den Freien Wählern weiter zu koalieren. Nach der Landtagswahl könnte Söder selbstverständlich die Freien Wähler auch ohne Aiwanger für eine Koalition gewinnen. Doch vor der Landtagswahl eher nicht. Denn die Freien Wähler wissen, dass sie ohne Aiwanger bei der Landtagswahl schlechter abschneiden würden als mit ihm.
Söder selbst kann wie alle anderen nicht vorhersehen, wie viele Wähler sich von der CSU und den Freien Wählern weg hin zu AfD und FDP bewegten, wenn die Koalition vor der Wahl platzt (dies wäre übrigens die einzige Chance der FDP, es in Bayern doch ein weiteres letztes Mal über die 5 Prozent zu schaffen).
Jetzt hat Söder mit dem abstrusen Manöver von 25 schriftlichen Fragen an Aiwanger erst einmal Zeit gewonnen: Bevor der August vorbei ist, müssen die bei Aiwanger eingetroffen sein, will sich Söder nicht komplett dem Vorwurf des Filibusterns aussetzen. Aiwanger darf für die Antwort nicht länger brauchen als Söder für die Übermittlung der Fragen. Aber von der Nachforschung, was sich im Archiv der Schule noch finden lässt, war am 29. August zwischen Söder und Aiwanger bereits einvernehmlich die Rede. Das dauert auch und verlängert die Sache bis – sagen wir mal – 12. September. Dann wären es nur noch drei Wochen bis zum Wahltag am 8. Oktober. Wenn Söder (mit und ohne heimliches Einvernehmen mit Aiwanger) will, kriegt er die Lücke bis zum Wahltag auch noch ohne abschließendes Ergebnis der Flugblatt-Affäre gefüllt.
2018 betrug der Anteil der Briefwähler bei der bayerischen Landtagswahl 38,9 Prozent. Dass 2023 die Hälfte der Stimmen die von Briefwählern sein könnte, war wahrscheinlich. Die wären schon überwiegend im Kasten, würde die Koalition drei Wochen vor dem Wahltag aufgekündigt. Kann aber auch sein, dass die Zahl der Briefwähler sinkt, wenn die Flugblatt-Affäre unentschieden andauert. Ungewissheiten über Ungewissheiten, wo doch alles schon klar zu sein schien. Andererseits: Die Wahlbeteiligung dürfte das Bauerntheater eher steigern als senken, zu Schaukämpfen kommen mehr Leute als zu Bittprozessionen.
Söder hat mit dem Zeitgewinnen begonnen, als er, wie er symbolträchtig selbst sagte, Aiwanger „einbestellte“, um zu demonstrieren, wer der Herr im Haus ist. Symbolträchtig auch, dass Aiwanger sich „einbestellen“, also demütigen ließ. Oder bauernschlau so tat als ob? Sind beide auf den letzten Metern des Wahlkampfs geschwächt unterwegs oder gehört das zur gehobenen medialen Bauernfängerei – um die Grünen und Roten in Siegesgewissheit zu wiegen?
Die Schwachstelle bei Cunctator Söder Markus‘ Taktik ist, dass die Zeit für ihn und gegen ihn spielt. Erreicht die Menge an neuen Informationen – wie jetzt Aiwangers Flugblatt als „Negativbeispiel“ in einer Schülerarbeit im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau oder des Ex-Mitschülers Erzählung über Aiwangers „Hitler-Gruß“ und „Juden-Witze“ in der Schule – eine kritische Masse, droht Söders Kartenhaus zusammenzufallen. Allerdings sagte Söder bei seinem Presseauftritt nach dem Koalitionsausschuss auch: „Es darf nichts Neues hinzukommen.“ Diese Reißleine an seinem Fallschirm kann Söder jederzeit ziehen, wenn der Aiwanger-Absturz gar nicht mehr aufzuhalten ist.
Daher wird Söder auch der selbst gebauten Falle entkommen, schließlich hat er in der Disziplin, morgen das Gegenteil des gestern Angetäuschten zu tun, nicht nur eine lange Erfahrung. Es ist das Einzige, was Söder im Parteienstaat besser gelernt hat als seine Mitbewerber um den „Kanzler-Kandidaten“ der Union. Und wenn das nichts wird, bleibt ihm in Berlin noch immer die Rolle des Grantlers aus München.
Anders ausgedrückt: im deutschen Parteienstaat nichts Neues. Um die Sorgen der Bürger geht es nicht. Die Berufsfunktionäre drehen sich um sich selbst. Und die Medien-Musik spielt zum Tanz.