Tichys Einblick
Deutschland als große Schweiz

Ukraine: Warum viele das lange Zaudern von Kanzler Scholz gut finden

Nicht nur viele TE-Leser bewerten das lange Zaudern von Kanzler Scholz in der Leopard-Frage positiv. Das zur langfristigen Entwicklung der Bundesrepublik – schon in der Bonner und erst recht in der Berliner Republik.

IMAGO / Political-Moments

Über demoskopisch verheerende Werte für Scholz berichtete TE gestern. Das war vor seiner Zustimmung zur Lieferung von Panzern an die Ukraine. Nun gibt es nicht nur hier bei TE, sondern überall eine heftige Kommentarwelle zum Ukraine-Krieg, nicht nur so wie seit Beginn des offenen Krieges, sondern um ein Vielfaches mehr.

Vor und nach der Entscheidung für Panzer-Lieferungen fällt unter den Kommentaren die hohe Zahl auf, die das lange Zaudern von Kanzler Scholz auch dann positiv bewerten, wenn sie ansonsten kein gutes Haar an Scholz finden. Das ist für mich nicht überraschend, sondern passt in mein Bild von der Bundesrepublik seit langem – der Bonner und erst recht der Berliner Republik.

Ergebnis Meinungsumfrage
Verheerende Werte für Scholz: Fast 70 Prozent bescheinigen ihm Führungsschwäche
Im „großen Kanton“, wie ein Schweizer Spitzname für Deutschland lautet, will schon ganz lange eine große Mehrheit der Deutschen viel lieber auch eine Schweiz sein als in der Nato, an der Seite der USA oder überhaupt im „politischen Westen“, wo immer nur ein Teil der politischen Klasse war.

Die politmedialen „Bekenntnisse“ zu den USA, zum „Westen“, zur Nato sind über die Classe Politique nie hinaus in breitere Volksteile eingedrungen, ja in der politischen Klasse selbst war eine solche Westorientierung nie wirklich verankert, sondern blieb einer Minderheit vorbehalten. Dem Ende der Sowjetunion folgte kein Siegeszug der Westorientierung, sondern die alten Vorurteile in einer Mischung von Antikapitalismus und Antiamerikanismus in den westeuropäischen Ländern lebten schnell wieder auf.

Ihren Erfolg bei der Besetzung der Kommandostände der zweiten Republik verdanken die Grünroten genau dieser Fortsetzung des Antikapitalismus und Antiamerikanismus mit anderen Mitteln. Für’s Weltgeschehen ist’s belanglos, denn von Berlin interessiert in Washington und Moskau wie in Paris und Brüssel nur das Geld der deutschen Steuerzahler. So lange es denn noch ausreichend sprudelt, dürfen Baerbock, Scholz und ihresgleichen ein bisschen mitspielen, bestimmen wollen sie ohnehin selber nichts.

Leoparden ja oder nein?
Olaf Scholz, deine Rede sei: Ja ja, nein nein!
In den wieder freien Ländern vom Baltikum bis in den Balkan ist die Anlehnung an den Westen, vor allem an die USA, eine Risikoversicherung gegen eine erneute Abhängigkeit von Moskau, aber keine politisch-kulturelle Hinwendung an den Westen. Und Deutschland ist wie schon immer das unglückliche Weltkind in der Mitte. Nie war die Mehrheit seiner Bürger größer als heute, die nichts lieber sein möchte als eine größere Schweiz: politisch neutral, wirtschaftlich mit allen im Geschäft und ansonsten bei ihren alten und neuen Hobbys und Partys im In- und Ausland. Motto: Gebt uns unsere DM-Zeiten zurück.

Warum es sinnlos ist, von Völkerrecht und Selbstbestimmung der Völker zu sprechen, habe ich hier schon einmal begründet. Weil seit 1918 jeder wissen kann, dass ‚Völkerrecht‘ nicht nur kein ‚Recht‘ ist, sondern ein Instrument des anfänglich von den USA dominierten ‚Völkerbundes‘ war, aus dem die mittlerweile von mehrheitlich autoritären Regierungen – China allen voran – dominierten United Nations (UN) wurden. In der Ukraine würde nach der ursprünglichen Logik des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Zweiteilung des Landes herauskommen. ‚Würde‘, da keine solche Abstimmung stattfinden wird, weil die alle Beteiligten von politischem Gewicht nicht wollen.

Was mich in der ganzen Debatte besonders stört, ist, wie alle von Russland und Ukraine reden. Mit Russland meinen sie, ohne es zu sagen oder auch nur zu merken, den zaristisch-sowjetischen Mix von Putins Machtapparat. Aber wo ist das andere Russland? Das der nach Gorbatschow erwachten Freunde von Recht und Freiheit, das begonnen hatte, sich in den Provinzen zu entfalten. In Russland gibt es nicht weniger Freunde von Recht und Freiheit als in Deutschland.

neue Stufe der Talkshow-Kunst: Fühlen
Bei Lanz nur Jubel über Panzer-Lieferung
Ganz sicher sind es in Russland nicht weniger als in der Ukraine, wo sie in der Kiewer Regierung ebenso wenig zu finden sind wie in der Moskauer. Zuhause würden Baerbock und Scholz den größeren Teil des Kiewer Establishments aus Angst vor politischer Kontaktschuld meiden. Gut und Böse eignet sich auch für Kiew und Moskau als Unterscheidung nicht. Aber darum geht es ja in der Außenpolitik nie, sondern um Interessen.

Doch der für mich zentrale Punkt in der ganzen Ost-West-Betrachtung kam von Anfang an schon in der Bonner Republik stets zu kurz, wenn er denn überhaupt zur Sprache kam. Auf TE schrieb einer vor Monaten, Putin habe die Nato und damit das transatlantische Bündnis wieder zusammengeschweißt. Darin steckt die alte Fehleinschätzung der Stimmung der Deutschen seit Beginn der zweiten Republik. Die Westorientierung war immer nur eine der qualifizierten Mehrheit in der Minderheit der politischen Klasse. Das Mehrheitsvolk will seit 1945 nichts anderes sein als eine große Schweiz – seit dem Hinzukommen der DDR erst recht.

Zurück zur Demoskopie. Ich bin sicher, dass sich das Umfrage-Bild für Scholz und die SPD in den kommenden Wochen deutlich verbessern wird, während auf die Grünen als die „Kriegspartei“ in der Ampel eine breite Welle der Ablehnung aus der eigenen grünen Anhängerschar zurollt. Die tiefgehende Auseinandersetzung in der Ukraine-Frage hat in Deutschland gerade erst begonnen.

Die einen wollen, dass Putins Russland den Krieg in der Ukraine verliert. Die anderen wollen, dass Deutschland sich aus allen Kriegen raushält. Beide Positionen sind legitim. Auch wenn es in der emotional hoch aufgeladenen Atmosphäre schwer fällt, sollte eine sachliche Diskussion an die Stelle des gegenseitigen Anschreiens treten, darüber, welche Folgen die eine und andere Politik aus welchen Gründen erwarten lässt. Damit wäre allen mehr gedient.

Vor allem hätte ich auch gerne diskutiert, was die wahren Gründe der Grünen sind, sich so zu verhalten, als wären sie über Nacht von Antiamerikanern zu Atlantikern geworden. Dass dies garantiert nicht der Grund ist, davon dürfen wir alle ausgehen, was wer von uns ansonsten auch immer über den Ukraine-Krieg denkt.

Anzeige
Die mobile Version verlassen