Ein Leser schrieb nach der Kommunalwahl in NRW: „Selbst SPD-Parteimitglieder wählen nicht mehr SPD, wie mir schon vor längerer Zeit ein Bekannter erzählt hat, der selbst Parteimitglied ist. Man ist halt immer noch Mitglied, so wie man noch in der Kirche ist, obwohl man nicht mehr in den Gottesdienst geht.“
Damit traf er mitten ins Schwarze. Sie werfen ein, ins Rote? Nein, denn der Clou bei der Geschichte ist die anhaltende Wirkung der alten politischen Farben, obwohl doch alle Farben längst nichts mehr sagen oder – noch schlimmer – wirkungsvoll in die Irre führen.
Hieß Schwarz einst konservativ, bedeutet diese Farbe heute nichts mehr, denn die Unterschiede bei wirklichen Richtungsfragen in der tatsächlichen Politik zu Grün, Rot und Gelb sind nicht erwähnenswert. Alle zusammen könnten in einer einzigen Partei sein, nicht einmal für echte Flügel gäbe es genug politischen Stoff. Die angemessene Parteifarbe wäre ein verwaschen blasses Rotgrün.
Dass diesem Umfeld mehr Leute angehören, denen es genau so geht, als solche, die unbeirrt und unbeirrbar daran glauben, dass alles beim – guten – alten geblieben ist, hält ein Geflecht von stabilen Labilitäten aufrecht, das der labilen Stabilität der Gefühle der einzelnen entspricht.
Dazu gehört auch, sich selbst einbilden zu können, es würde einen Unterschied machen, CDU statt SPD zu wählen, obwohl rational alle sehen könnten, dass so oder so eine Grün bestimmte tatsächliche Politik auch das Ergebnis der nächsten Wahl sein wird – Grün, das neue Rot, was auch die Wählerwanderungen spiegeln, bisher nur demoskopisch, aber sehr wahrscheinlich dann auch in abgegebenen Stimmen. Grün wählen wollen hat in diesen Zeiten den großen Vorteil, dass man sich damit im schwarzen, roten und rosaroten Milieu und vor allem im Spiegel der veröffentlichten Meinung bequem bewegen kann, ohne Kritik zu riskieren. Rotgrün ist in. Norbert Bolz fasst es so: „Früher waren die Linken Kritiker, heute sind sie Mitläufer.“ Und Mitläufer waren in den schlechteren Teilen der deutschen Geschichte leider schon immer eine zuverlässige Größe.
Der Fall, den der eingangs zitierte Leser beschreibt, ist wahrscheinlich die seltene Ausnahme. Und zwar deshalb weil die Allermeisten auch mental kein Doppelleben führen können. Es würde sie innerlich zerreißen. Ich schrieb neulich, dass dieser Mechanismus selbst in der Wahlkabine funktioniert, obwohl dort keiner zusehen kann. Ein Leser kommentierte empört, das wäre – na irgendetwas Beleidigendes.
Das Bedürnis, mit sich selbst, den Seinen, dem näheren und weiteren Umfeld im Reinen zu sein, entspricht dem weit verbreiteten Bedürfnis, der tiefen Sehnsucht nach Harmonie, nach Geborgenheit. Je weniger das beim einzelnen der Fall ist, desto größer wird das Bedürnis. Bevor sich der einzelne aus seinem noch so labilen sozialen Geflecht tatsächlich oder auch nur mental entfernt, muss viel mehr geschehen, als die Meisten in ihrem persönlichen Leben bisher wahrnehmen (wollen).
Die Leute bleiben bei ihrer CDU, weil sie sich einbilden, die wäre noch immer Schwarz. Ja, sie glauben sogar, mit Union wählen würden sie die Roten von der Macht fernhalten, und merken nicht, dass Rotgrün längst das Sagen innerhalb der CDU und CSU hat. Die SPD schrumpft wie die Linkspartei zum Traditionsverein ihrer Veteranen.
Im ganzen politischen Westen tobt der politische Kulturkampf – mit Ausläufern in den Länder des früheren Sowjetimperiums. Die immer noch zunehmende Schärfe dieser Auseinandersetzung belegt für jeden, der es sehen will, der Kulturkampf erreicht seinen Höhepunkt. Dass er in Deutschland zuletzt zu Ende geht, ist deutsche Kontinuität. In Deutschland passierte schon immer alles Politische später, dafür maßlos blindgläubiger – und scheiterte schrecklicher.
Entschieden wird der politische Kulturkampf nicht in Kontinentaleuropa, sondern wie seit Jahrhunderten in der angelsächsischen Welt. Der politische Westen ist zäher, als die (überwiegend nichtwestlichen) Mandarine der UN und ihre Satrapen in der EU ahnen. 2021 wird politisch ein vielversprechendes Jahr.