Unter der Überschrift „Der Kanzler und die Herdenloyalität“ erschien im Standard ein Gastkommentar von Christina Aumayr-Hajek und Ernest Pichlbauer, der Aufmerksamkeit verdient.
Die beiden sagen einleitend: „Unsichere Zeiten erfordern aus medialer Logik klare Ansagen und eindringliche Sprachbilder. Damit schlug die Sternstunde des Kanzlers. Verglich Sebastian Kurz Covid-19 anfangs noch mit der Influenza und hielt das Tragen von Masken für nutzlos, sattelte er flugs auf den Krisenmodus um.“ Das habe ich auch so wahrgenommen.
Die zwei Autoren fahren fort: „Das führt uns zum zweiten Erfolgsrezept des Kanzlers: Wo Fakten und gesicherte Handlungsweisen fehlen, muss ein hoher Angstpegel für Herdendisziplin sorgen. Von Lebensgefährdern war die Rede und von der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Jeder würde bald einen Corona-Toten in seinem Umfeld kennen, und bis zu 100.000 Menschen könnten Corona zum Opfer fallen. Von Sterbenden werde man sich nur noch via Telefon verabschieden können.“
Dass Kurz und seine Minister so verfuhren, ist zutreffend beschrieben. Was die türkis-grüne Regierung anders hätte machen können, verschwindet hinter dem einen Satz, der insofern in der Luft hängt: „Wo Fakten und gesicherte Handlungsweisen fehlen, muss ein hoher Angstpegel für Herdendisziplin sorgen.“
Weiter bei Aumayr und Pichlbauer: „Mit scharfen Maßnahmen wurde die Ausbreitung des Virus eingedämmt, der Lockdown war unbestritten die richtige Entscheidung. Doch dann endete das Pandemie-Drehbuch der WHO, die Regierung war auf sich gestellt, und die Fehler begannen. Wir haben keine fundierte Datenlage, kein epidemisches Monitoring-Modell, wir haben keine Ahnung über mögliche Auswirkungen einzelner Maßnahmen und keine klar erkennbare Strategie. Die Regierung ist im Blindflug unterwegs.“
Da widersprechen sich die zwei: Entweder „der Lockdown war unbestritten die richtige Entscheidung“ oder „die Fehler begannen“ bereits von Anfang an. Denn das galt auch vor dem Lockdown: „Wir haben keine fundierte Datenlage, kein epidemisches Monitoring-Modell, wir haben keine Ahnung über mögliche Auswirkungen einzelner Maßnahmen und keine klar erkennbare Strategie. Die Regierung ist im Blindflug unterwegs.“
Insofern hat Kurz in meiner Wahrnehmung bis auf zwei Dinge alles richtig gemacht. Bevor ich darauf komme, ein kurzer Vergleich mit Deutschland. Anders als Kurz – „Verglich Sebastian Kurz Covid-19 anfangs noch mit der Influenza und hielt das Tragen von Masken für nutzlos, sattelte er flugs auf den Krisenmodus um.“ – brauchte Merkel für’s Umsatteln Wochen und schwankte in diesen und danach bis heute zwischen unterschiedlichen, sich widersprechenden Positionen. Im Saldo folgt das in Merkels Einbildung politisch große Deutschland – inzwischen von Föderalismus wieder etwas mehr sichtbar – dem politisch seit Kurz gar nicht kleinen Österreich. Dass der Einzelne so viel Unterschied machen kann, freut einen, der wie ich seit langem als Selbstbeschreibung angibt: mit dem Herzen Anarchist, mit dem Verstand Liberaler (in unseren Tagen muss ich hinzufügen, Liberaler im klassischen Sinn).
Jetzt zu den zwei Dingen, die Kurz aus meiner Sicht falsch gemacht hat. Mit den Corona-Toten, die jeder bald in seinem Umfeld kennen würde, und ähnlichen Tönen hat Kurz ohne Not überzogen. Er hätte das zur Begründung seiner Politik nicht gebraucht. Da und dort klingt mittlerweile bei Kurz durch, dass er das inzwischen auch so sieht. Gravierender finde ich, was Unternehmensberaterin Antonella Mei-Pochtler, die Think Austria, die Denkfabrik von Sebastian Kurz leitet, neulich in der Financial Times sagte, jeder werde in Zukunft zu seiner freien Bewegung eine Tracing App haben müssen, die sich „am Rande des demokratischen Modells“ befände. Die Beraterin von Kurz widersprach dem österreichischen Presseecho und sorgte nach der ersten Kritikwelle aus den Oppositionsparteien für einen zweiten Artikel der Financial Times, in dem es heißt:
»Ms Mei-Pochtler is also working on a plan to restart Austria’s tourism industry, which accounts for just under 10 per cent of GDP. The country is likely to open its borders in the coming weeks, the government has said.
Making the downloading and use of a contact tracing app a criterion for access to the country for foreign tourists is one option being considered to encourage visitors without endangering public health. The government has ruled out making the app mandatory for Austrians, but hopes that many citizens will voluntarily use it as its benefits become clear.
“This will be part of the new normal. Everyone will have an app. I think people will want to control themselves,” Ms Mei-Pochtler said. “You cannot manage a pandemic top down forever. You need to manage it from the bottom up.”
This article has been amended to clarify remarks made by Ms Mei-Pochtler on the use of contact tracing apps.«
Damit fädelt Mei-Pochtler scheinbar in die offizielle Linie der Regierung Kurz ein, die betont, nur auf die freiwillige Teilnahme an einer Tracing App des Roten Kreuzes zu setzen. Ich beobachte Politik zu lange, um solchen Versicherungen vertrauen zu dürfen. Ihre Halbwertzeiten sind nach aller Erfahrung extrem kurz. Was die Chefberaterin als Richtigstellung ausgeben will, ist doch bei Lichte betrachtet eine Bestätigung der Kritiker:
»“This will be part of the new normal. Everyone will have an app. I think people will want to control themselves,” Ms Mei-Pochtler said. “You cannot manage a pandemic top down forever. You need to manage it from the bottom up.”«
Allein dieser Passus lässt gar keine Zweifel zu:
»Making the downloading and use of a contact tracing app a criterion for access to the country for foreign tourists is one option being considered to encourage visitors without endangering public health.«
Reisefreiheit nur mit Tracing App, wozu da noch von freiwillig reden? (Müssen übrigens dann illegale Einwanderer auch so etwas haben – und wie sollte das bei den tatsächlichen Abläufen dieser Einwanderung überhaupt organisierbar sein? Richtig, gar nicht.)
Selbst wenn ich mich anstrengen wollte, den Versicherungen der Regierung Kurz von der Freiwilligkeit der Tracing App zu glauben – allein des bestätigenden Dementis der Chefberaterin wegen ginge das nicht. Von Antonella Mei-Pochtler (zur Person mehr hier) gibt es auch noch eine Kolumne im Standard von 2003, in der es nicht um Politik, sondern um „Markenführung“ geht, und wo sie schrieb:
»Gleichgültig, ob ich versuche, Konsumenten zum Kauf von mehr Marken oder meine Kinder zum Kauf von weniger Marken zu bewegen – immer stellt sich mir die Kantsche Grundsatzfrage: „Was soll ich tun?“ Führen oder verführen? Einpeitschen oder einflüstern? Diktatur oder Demokratie? Die salomonische Antwort: „Beides!“ Also: „Diktokratie“ – ein Unwort, aber mit Zukunft. Das lässt sich bestens am Beispiel der Markenführung betrachten.«
Wie weit die Politik der Regierung Kurz dieser „Diktokratie“ in der politischen Markenführung schon folgt, ist schwer einzugrenzen. Ich bin nicht sein Politikberater, plädiere aber, keinen Schritt weiter zu gehen, sondern ein paar zurück zu tun. Denn an seiner Seite hat der türkise Kurz einen grünen Partner, der nichts lieber tun wird, wenn er nur kann, als seine Klimapläne mit solcher „Diktokratie“ durchzusetzen.