Die Kanzlerin hat Herz, lesen die einen aus dem Kaffeesatz, eiskaltes Kalkül, den Linken weiter ihre Themen wegzunehmen, deuteln die anderen. Kaum steht dieses Lieblings-Genre vieler Medien im veröffentlichten Raum, stürzen sich Profis und Laien begeistert ins Spekulationsgeschäft. Tritt sie zurück? Macht sie sich für das Amt des Generalsekretärs der UNO bereit? Leserkommentare enttäuschter Unionswähler überbieten sich mit Rücktritts-Aufforderungen. Verschwörungstheorien haben noch mehr Hochkunjunktur als immer: „Honeckers Rache“ ist noch die mildeste Form.
Journalisten und Medien, die sich nicht als Merkel-Fans verstanden, loben sie seit ihrer Botschaft: Wir schaffen das. Das ändert sich nun wieder, wenn die Pläne mehr oder weniger realisiert werden, die Sozialleistungen für Migranten zu reduzieren und in die Heimatländer zurückzuschicken, wer den Asylstatus nicht bekommt. So oder so, Deutschland und die anderen EU-Länder beginnen, ihren Umgang mit Asylbewerbern und Zuwanderern aus anderen Gründen zu ändern. Den offenen Grenzen für Zehntausende auf dem Weg von Ungarn durch Österreich nach Deutschland folgen nun geschlossene Grenzen – Land für Land: von Serbien, Kroatien, Slowenien und Ungarn nach Osten bis zum Schwarzen Meer und nach Süden bis Griechenland und die Türkei.
Der Alltag fordert sein Recht
Vermehrt lese ich im Kommentar-Urwald sozialer Medien mit höhnischem Unterton, dass die große Koalition nun Stück für Stück das AfD-Programm verwirklicht und Pegida-Parolen folgt. Je kürzer die Schatten mit den näherkommenden Wahlterminen fallen, desto lauter werden sich auch die jetzt leisen Oppositionsparteien Gehör verschaffen. Migration wird auf Platz eins der Agenda stehen bis zu den Europawahlen und darüber hinaus. Unterthemen – jetzt noch am Rande – rücken in den Vordergrund. Jeder kann sich ausmalen, was passiert, wenn ein Terroranschlag von Tätern verübt wird, die unter dem Flüchtlingsschirm nach Europa gelangten. Das Schleuserthema rückt bereits in den Fokus.
Gemeinsamer Nenner: mehr Polizei, mehr Militär, mehr Verwaltung – und kein Platz für Gestaltung. Wo ist die große Idee für die Integration der Zuwanderer? Wo ist die große nationale und europäische Anstrengung? Wo ist die Versammlung der Klügsten, die einen Masterplan ausarbeitet?
Wer den Begriff Flüchtlinge für alle Migranten verwendet – auch in der Variante Wirtschaftsflüchtlinge – gerät, ohne es zu wollen, in eine unheilige Allianz mit den Menschenhändlern (Schleuser ist ein zu harmloses Wort). Vor unseren Augen agieren hoch professionelle kriminelle Organisationen von Menschenhändlern. Sie segeln im Windschatten der Willkommens-Stimmung. Nicht immer wird das so offensichtlich wie bei der gezielten „Vermarktung“ von Irakern und Somalis nach Finnland, weil es dort noch keine Rückführungsabkommen mit diesen Ländern gibt. Im Megathema Migration sind die Positionen nicht annähernd so klar, wie Befürworter und Gegner meinen.
Die Kanzlerin hat einerseits ihr „Wir schaffen das“ mit dem Statement unterstrichen, das wäre nicht ihr Land, wo sie nicht freundlich zu Flüchtlingen sein dürfe. Andererseits sagt sie, die in ihrer Heimat nicht Verfolgten sollten bitte verstehen, dass sie zurück müssen, damit sich Deutschland um die Verfolgten kümmern kann. Ob das von vornherein ihre Doppelstrategie war oder ob sie jetzt zurückrudert, spielt im Ergebnis keine Rolle. Seehofers und der CSU unverhohlener Triumph, sich mit einer härteren Gangart durchgesetzt zu haben, passt ins Bild.
Die Ausgangspositionen für die nächsten Wahlen werden bezogen. Wer Ramelow im Osten und Kretschmann im Südwesten zuhört, weiß, dass die parteiübergreifende große Deutschland-Koalition weit über Union und SPD hinaus greift. Nicht nur Ossis polemisieren mit „Blockparteien“. Insofern hat Angela Merkel die Dinge gut im Griff: von Atomausstieg bis Windkraft, von guten Jobzahlen bis Mindestlohn, von Willkommenskultur bis Asylbewerberleistungsgesetz.
Ihre Achillesferse ist die Bereitschaft der Bevölkerung zur Integration der ungewohnt großen Zahl. Die Zahl der Anschläge auf Migranten-Einrichtungen wird nicht abnehmen. Gewalttätige wie alltägliche Konflikte zwischen Migranten und Einheimischen wie unter Migranten selbst werden umso wahrscheinlicher, je kasernierter die Unterbringung der Zuwanderer ist, je länger sie dort untätig ausharren müssen. Und friedlich werden Rückführungen oft nicht vor sich gehen.
Im Unionsvolk rumort es
Jetzt schon stecken die Posts in sozialen Medien und die Leser-Kommentare bei den Profi-Medien voller wahrer, unwahrer und ausgeschmückter Erzählungen über das, was sich zwischen Migranten und Ansässigen an Konflikten tut. Im Zeitverlauf kann es gar nicht anders sein: Zwischenfälle und Berichte nehmen zu. Das trifft die Wähler- und Anhängerschaften der Parteien ungleichmäßig. Am wenigsten persönliche Berührung haben die Bewohner von gehobenen urbanen Wohnvierteln – darunter nicht zuletzt die Stammwähler der Grünen (und der FDP). Migranten-Unterkünfte in mittelgroßen und kleinen Gemeinden liegen oft in der Nähe von Supermärkten und anderen besuchten Plätzen, wo die Wähler von SPD und Union um die Ecke leben.
Angela Merkel droht von den anderen Parteien keine Gefahr. Sie hat sie mit ihrer Umarmungstaktik ausmanövriert, jede neue Meinungsumfrage bestätigt das. Doch eines messen Umfragen nicht, die Wahlbeteiligung. Die Gefahr kommt aus der Unions-Anhängerschaft. Auch ich kann aus Leserkommentaren und Facebook-Posts nicht hochrechnen, wie groß das ist, was sich da zusammenballt. Aber der Ton ist eindeutig. Jene, die Merkel verteidigen oder offensiv unterstützen, sind wesentlich weniger und sehr, sehr leise geworden. Die Schweigespirale lässt grüßen. Ob Heiko Maas am Ende Erfolg mit seinem Druck auf Facebook hat oder nicht: Die Schweigespirale dreht sich bereits allein durch seine Vorstöße schneller. Mich erinnert das an Kinder, die glauben, nicht gesehen zu werden, wenn sie sich die Augen zuhalten.
Die Schweigespirale trübt die Wahrnehmung
Vor und zwischen den deutschen Wahlterminen stimmen Bürger anderswo in Europa ab. Überall sind politische Gruppierungen auf dem Vormarsch, die eine Festung Europa errichten wollen: Schwedendemokraten, dänische Volkspartei, polnische Konservative, britische UKIP, Frankreichs Front National, Belgiens Vlaams Blok und FPÖ. Ihren Vorstellungen kann sich Merkel nicht weiter annähern, als die nun vorliegenden Kürzungen der sozialen Ausstattung der Migranten signalisieren. Das wird den Konservativen im Unionslager nicht genug sein. Was die Union an die AfD verloren hat, wird nicht mehr. Aber die Zahl der Stammwähler der CDU, welche nicht zur Wahl geht, kann bei den kommenden Wahlterminen so groß werden wie noch nie. SPD-Stratege Matthias Machnig unterschied vor Jahren (auf der Grundlage einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung) zwischen Kernwählern und Stammwählern. Der Unterschied ist einfach beschrieben: Kernwähler sind Stammwähler, die ihre Partei jedes mal wählen – Stammwähler sind Wähler, die niemals für eine andere Partei stimmen, aber manchmal nicht zur Wahl gehen.
Von diesen Stammwählern der CDU (und abgeschwächt der CSU) droht der Kanzlerin Gefahr. Auf die konstanten Umfrageergebnisse von Union 40-plus-X-Prozent ist als Prognose kein Verlass. Dieses mal reicht Umarmungstaktik nicht. Merkel und damit der Union Politik fehlt eine Strategie. Mit der Rückkehr von Grenzen in Europa stößt Angela Merkel an ihre.