Das scheint das Muster zu werden: Plötzlich so zu schreiben, als hätte man nie eine andere Botschaft verbreitet. Beim Leitartikel von René Pfister drängt es mich alle paar Zeilen nachzuschauen, ob ich wirklich im SPIEGEL-E-Paper bin.
«Merkel und Seehofer erkennen ganz offenkundig nicht, was auf dem Spiel steht. Welchen Wert ein stabiles Parteiensystem hat, offenbart ein Blick zu den Nachbarn. Man mag die »En Marche«-Bewegung Emmanuel Macrons für eine erfrischende Alternative halten. Nur: Was, wenn sich der französische Präsident nicht als der Heilsbringer entpuppt, für den ihn bislang viele halten? Was, wenn er eines Tages über eine ganz banale politische Affäre stürzt? Konservative und Sozialisten sind in Frankreich zu Splitterparteien geschrumpft, und die »En Marche«-Bewegung wird das Land dann nicht auffangen, weil sie ganz und gar das Geschöpf Macrons ist.»
Stabiles Parteiensystem? Wo? In Frankreich ist das alte Parteiensystem, das angeblich stabile schlicht verschwunden. In Deutschland tut die Medienmehrheit so, als wäre es noch da. Aber es schwindet doch vor aller Augen, die sehen wollen. So wie nach Pfister die »En Marche«-Fiktion das Geschöpf Macrons ist, ist Merkel das Geschöpf des Einheitsparteienclubs in den Regierungen und sie nicht kontrollierenden Parlamenten des Bundes und der Länder sowie des korrespondierenden Einheitsmedienmeinungsclubs.
«Die Wut auf sie mag hysterische Züge haben, aber auch viele besonnene Wähler haben mit der Kanzlerin abgeschlossen. Es gibt einen Überdruss, der nicht mehr verschwinden wird. So gesehen war es ein Fehler, dass Merkel überhaupt noch einmal angetreten ist.»
Ich kann mich nicht erinnern, dass nennenswerte Stimmen der Regierungspresse gegen die erneute Kanzlerkandidatur argumentiert oder diese auch nur in Frage gestellt hätten.
Merkel kriegt die Kurve nicht, ihre gravierenden Fehler irgenwie so weit als Änderung ihrer Politik zu frisieren (ohne sie wirklich zu ändern), um ihr Amt zu behalten, ihre Komödie in Brüssel ist schon fast Kabarett. Die ersten Journalisten in den Meinungsmedien versuchen diese Kurve erst gar nicht, sondern schreiben von einem Tag auf den anderen heute so selbstverständlich gegen Merkel wie gestern für sie.
Die Pressestelle der Unionsfraktion liefert dieses Gustostück von peinlicher Hofsprachregelung ab:
Die stets regierungstreue linksliberale Stuttgarter Zeitung hält sich nicht an die Sprachregelung aus der Hauptstadt:
Da ist Eric Frey vom linksliberalen DER STANDARD in Wien von anderem Kaliber als René Pfister und Gleichgesinnte. Er legt zum Beispiel den Kern des Dilemmas der Linksliberalen offen, ihre Haltung politisch nicht begründen zu können und daher in Pseudojuristerei geflüchtet zu sein:
«Als Tausende täglich zur Grenze strömten, argumentierten die Befürworter der Aufnahme vor allem rechtlich: Wir sind durch die Genfer Konvention, die EU-Richtlinien und die eigenen Gesetze dazu gezwungen, jeden Asylwerber an der Grenze aufzunehmen und seinen Fall einzeln zu prüfen. Liege kein Asylgrund vor, werde man ihn wieder abschieben.
Die Frage, ob dieses aus der Nachkriegszeit stammende Prinzip auch anwendbar ist, wenn Millionen nach Europa wollen, von denen die Mehrheit nicht politisch verfolgt ist und bereits mehrere sichere Drittstaaten durchquert hatte, war verpönt – ebenso der Hinweis, dass dadurch jeder Mensch mit tausend Dollar in der Tasche die Chance bekommt, in ein reiches europäisches Land mit all seinen Jobangeboten und Sozialleistungen zu gelangen.»
Dem Fazit von Frey stimme ich zu:
«Europa muss erst zur Festung werden, damit Toleranz, Liberalismus und Vielfalt auf dem Kontinent wieder eine Chance bekommen.»
Was Frey mit Vielfalt genau meint, möchte ich gerne kennenlernen. Die bei nahezu allen Medien- und Politikleuten nie infrage gestellte Prämisse verneine ich, dass die Länder Europas eine außereuropäische Zuwanderung aus demographischen Gründen zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs der Industrie brauchen. Die unheilige Allianz von linksliberal verirrter Humanitätsromantik und staatskapitalistischem Verlangen nach Niedriglöhnern müssten freie Geister längst zum öffentlichen Thema machen. Diese Allianz ist für die Linksliberalen eine politische Schande (ich nenne die Linksliberalen so, weil sie das selbst tun, würde ich sie anders nennen, würden sie sich nicht gemeint fühlen). Für die Mandarine der Industrie und ihrer Verbände ist die Allianz auch eine fachliche Schande, weil sie offenlegt, dass diese Leute nicht wissen, welche Fertigkeiten in welcher Zahl die Industrie von morgen braucht. Europa kann kulturell und wirtschaftlich bei sinkenden Einwohnerzahlen besser blühen.