Quod tibi, hoc alteri, ne alteri quod non vis tibi. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das klassische Zitat wird auch Goldene Regel genannt. Sie findet sich nahezu wortgleich in vielen alten Kulturen weltweit. Mehr braucht es auch nicht für ein zivilisiertes Zusammenleben.
Was anständig ist und was nicht, „was man tut“ und was nicht, „was sich gehört“ und was nicht, haben mir Mutter, Großmutter, Vater, die vielen Gleichaltrigen um mich herum beigebracht – nicht durch belehren, sondern ihr tägliches Tun, den Umgang miteinander.
Früher hatten wir lange Schulferien – volle zwei Monate, „große Ferien“ genannt. Im Volksschulalter verbrachte ich diese bei Verwandten auf ihren Bauernhöfen und in ihren Werkstätten. Dort war es mein ganzer Ehrgeiz bei der Arbeit „der Großen“ mitzumachen. In diesen Sommermonaten habe ich fürs spätere Leben Dinge gelernt, die keine noch so guten Lehrer hätten vermitteln können: Auf dem Acker, im Stall, im Weingarten, bei der Waldarbeit. In den neun Jahren Gymnasium (eines doppelt) und vier Jahren Studium arbeitete ich in den Sommerferien in einer Schlosserei, einer Elektrowerkstätte, einer Brauerei und beim Wasserbauamt. Mit dem verdienten Geld kaufte ich mir gebrauchte Ski, Bergausrüstung und was meine beiden beruftätigen Eltern beim besten Willen nicht auch noch finanzieren konnten. Auch für diese Zeit außerhalb von Schule und Universität gilt, dass ich dort lernte, was meine ganz überwiegend guten Lehrer mir nicht hätten beibringen können. Ja, und auch in meinen 12 Monaten Bundesheer habe ich viel gelernt – nicht zuletzt darüber, wie es manchen verändert, wenn er Macht über andere hat. Besonders wertvoll: wie man falsche Befehle von Vorgesetzten richtig ausführt.
Überall, auch in meinem Leben seither, waren und sind in meiner Umgebung Zeitgenossen, die von derselben, eingangs genannten Einstellung geprägt sind. Ja, ich bin auch auf viele gestoßen, die sich an diese Regel nicht hielten. Mal habe ich das mit ihnen ausgetragen, mal habe ich mich schlicht von solchen abgewandt. Aber unterm Strich funktioniert das Zusammenleben nach diesem schlichten Strickmuster.
Ich kann ehrlich gesagt mit dem Begriff Leitkultur nichts anfangen, nicht in Bassam Tibis Bedeutung und schon gar nicht in der des Innenministers. Ja klar weiß ich, dass letzterer damit auch gar nichts erreichen will, sondern bloß den Eindruck erwecken. Das Grundgesetz ist in seinem Grundrechtsteil ein bemerkenswertes historisches Dokument. Aber eine Leitschnur fürs wirkliche Leben ist es genauso wenig wie andere Werke dieser Art in anderen Ländern und Breiten.
Jeder ist von dem geprägt, wie er aufgewachsen ist und sich dann selbst weiter entwickelte. Um mich herum im Bonn der späten 1960er Jahre und vor allem den 1970ern entstand unmerklich ein neuer gesellschaftlicher Rahmen. Er wurde wie stets alles Neue aus den USA importiert und in der Bundesdrepublik wie immer übertrieben. Denn wenn Völker typische Eigenschaften haben, dann ist die deutsche: Was mir tun, ist nicht so wichtig, so lange wir es perfekt machen.
Nach dem 2. Juni schloss sich z.B. die bis dahin eher konservative Katholische Studentenschaft der Anti-Vietnam-Bewegung an, die bis dahin nur von „linken“ Gruppen getragen worden war. Die politische Hochschulszene war von jetzt auf gleich praktisch geschlossen „links“. Der VDS-Vorstand flog zum Bundeskanzler der ersten Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger nach Stuttgart. Ein Gespräch in der Sache fand nicht statt. Die Kluft zwischen der alten CDU wie SPD und diesen frühen 1968ern war schon zu groß.
Wer die Kölner Türkenviertel kennt, weiß, dass in der Domstadt keine Integration stattfindet, sondern ein recht gut funktionierendes Nebeneinander, mit dem die allermeisten zufrieden sind und bei dem es bleiben könnte. Natürlich gibt es Schnittmengen, wo die Unterschiede zwischen beiden Seiten nahe Null sind und sich allenfalls in gegenseitigen Neckereien äußern, die nicht wesentlich größer sind als zwischen Kölnern und Düsseldorfern. Oder zwischen den echten Einheimischen und den sehr vielen Zugewanderten mit dem schönen Gattungsbegriff Immis oder Imis. Die rheinische Lebensart ist ein guter Kitt. Nirgendwo in Deutschland fiel ich als Österreicher – mit leichtem Akzent – weniger auf.
Die Masseneinwanderungswelle (sie ist nicht vorbei) mögen in ihren Folgen Sachkundige analysieren. Meine Sicht ist simpel und deshalb wahrscheinlich die zutreffendere: Es ist wie vieles im Leben eine Frage der Dosis. Wenn eine Gesellschaft durch die pure Zahl überfordert wird, entsteht eine andere Kategorie von Problemen. Dass die Bürokratie jedes große Problem durch falschen Umgang verschlimmert, ist ein systemisches Gesetz im Land der Perfektionssucht.
Deutschland, Österreich, Schweden und so weiter brauchen eine längere Atempause. Um ihren Bürgern Zeit zu geben, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Um denen, die kamen, hier aber nicht glücklich werden können, beim geordneten Rückweg in ihre Heimat zu helfen. Wer sich der Art zu leben der Mehrheitsgesellschaft anschließen will, braucht keine „Leitkultur“. Das lernt jeder im täglichen Tun. Es braucht auch keine Programme, Kurse, Broschüren und Lehrfilme. Ich habe noch nie etwas durch Gebrauchsanweisungen gelernt, sondern durch Probieren. Daran allerdings darf niemand gehindert werden.
Die öffentlichen Meinungsführer glauben, die Mehrheitsgesellschaft würde die von ihnen vertretene und täglich inszenierte Political-Correctness-und-so-weiter-Quasi-Leitkultur teilen. Das ist ein Irrtum. Dass viele dazu schweigen, wenn sie das Gefühl von Öffentlichkeit über ihre vertraute Umwelt hinaus kriegen, hat nichts an ihrem tatsächlichen, öffentlich unbeobachtetem Leben geändert. „Die Leute“ sind, ich gestatte mir ihren ureigenen Ausdruck: stinknormal. Und das ist gut so.
Was die Political-Correctness-und-so-weiter-Quasi-Leitkultur angeht, die hat begonnen, sich selbst aus dem Verkehr zu ziehen. Und die Politik? Die vollzieht es dann nach, wenn es schon passiert ist. Wie immer. Sie gibt weder Tempo vor noch Richtung. Und die Medien? Springen hin und her. Wie gewohnt. Sie können das alles noch nicht beobachten? Das Werden der Political-Correctness-und-so-weiter-Quasi-Leitkultur dauerte lang, ihr Gehen wird weniger Zeit brauchen, aber ein bisschen schon. Meine Nase für Entwicklungen hat mich bisher noch nie getrogen. Schaun mer mal, dann sehn mer scho.