Wolfgang Herles ist ein waschechter Bundesrepublikaner. Ich nur ein Hineingeschmeckter. Gemeinsam ist uns, dass uns die Bonner Republik fehlt. Wir wissen, es gibt sie nie wieder. Aber schön wär’s schon. Wie es allerdings dort weiter gegangen wäre ohne die irreführend Wiedervereinigung genannte Einverleibung der DDR durch die BRD-Polit-Bürokratie, wissen wir beide nicht.
Die Auseinandersetzung zwischen den damaligen Erben der Achtundsechziger, der bundesdeutschen Linken, die sich hauptsächlich bei SPD und Grünen niederließ, aber auch in CDU und FDP, wäre zweifellos weitergegangen. Als die Mauer überraschend fiel, wurde dieser Prozess, der in der Tiefe noch mehr innerhalb der Bonner Parteien stattfand als zwischen ihnen, unterbrochen und gebrochen. Die Implosion der Sowjetunion und der ihr folgende Mauerfall traf die bundesdeutsche Linke kalt, kälter noch als die Kohl-Union und die Lambsdorff-FDP.
Die schwarzgelbe Regierung Kohl-Genscher wäre bei der regulären Bundestagswahl 1991 glatt abgewählt worden, die FDP aus dem Bundestag geflogen. Kohl und Genscher blieben nur im Amt, weil große Teile der Bürger der DDR sie im Vertrauen auf die Macht ihrer Ämter wählten, statt nach politischen Kriterien ihre Stimmen abzugeben (aus dem selben Grund landete übrigens Frau Merkel bei der CDU statt bei den Grünen).
Mit der bundesdeutschen Linken und ihren nicht wenigen Gleichgesinnten in den so genannten bürgerlichen Parteien kamen die Staatsgläubigen West mit den Staatsgläubigen Ost aus den DDR-Kadern zusammen, die schnell in die Westbürokratien hineinfanden: da musste nichts zusammenwachsen, das passte.
Wolfgang Herles schreibt, dass es in den neuen Bundesländern mehr Rechtsradikale gibt als im Westen. Ob der offizielle Antifaschismus der DDR eine Aufarbeitung der Naziverbrechen eher verhindert hat, lässt er dahingestellt. Ich denke, das ist nur die Oberfläche. Das darunter sehe ich in mehrerlei Hinsicht anders.
Eine wirkliche Aufarbeitung der NS-Zeit hat in der alten Bundesrepublik nicht stattgefunden, nach ein paar Prozessen gegen NS-Verbrecher ging die Bonner Republik zum Wirtschaftswunder der DM über – sub auspiciis Americanensis. In der DDR war keine nötig, da der Oststaat ja als Antithese zu Hitler etabliert wurde – sub auspiciis Sowjetensis. Die DDR als positives Gegenteil des NS-Staats war Staats- und Gesellschaftsdoktrin.
Mit dem gewohnten Leben des Volkes nach 1945 wie vor 1933 erinnere ich daran, dass der NS-Staat Einstellungen nutzte, die schon da waren. Herles schreibt über Biedenkopf in Sachsen: „Die Fortsetzung des sozialistischen Obrigkeitsstaats mit anderen, freundlicheren Mitteln. Der Staat regelt alles, das war die neue, alte Botschaft.“ Nun, Hitlers NS-Staat könnte hier anknüpfend heißen: „Die Fortsetzung des monarchischen Obrigkeitsstaats mit anderen, unfreundlicheren, ganz und gar rücksichtslosen und skrupellosen Mitteln. Der Staat diktiert ausnahmslos alles, das war die neue, alte Botschaft.“
Obrigkeitsgläubigkeit, Kadavergehorsam – setzen Sie ein, was Ihnen noch einfällt – waren schon da, als Hitler und die Seinen hochkommen konnten auf dem Hintergrund der wirtschaftlich und sozial katastrophalen Zustände in einem durch den Ersten Weltkrieg selbst und seine Folgen materiell und moralisch darnieder liegendem Land. Nach Hitlers 12 Jahren Diktatur fand sich das Volk noch weitaus schlimmer wieder als 1918. In der DDR sprach das System das Volk frei von Schuld, weil es sich ja mit der DDR von diesem Erbe ganz und gar abwandte. In der Bonner Republik wurde das Volk nach der quasi Freisprechung durch die Westmächte in den DM-Wohlstand entlassen.
Der Traum der politischen Bundesrepublikaner von der Auflösung des bis heute unbewältigten NS-Erbes in einem vereinigten Europa scheitert vor unseren Augen an der Frage der Masseneinwanderung, hinter der die Illusion von der gemeinsamen Währung als Motor der politischen Einigung so lange zurücktritt, bis der Verschiebebahnhof beider Großprobleme, die Wachstumsblase aus gedrucktem Geld ohne ausreichenden Gegenwert, mit einem lauten Knall platzt.
Mit der dann offen zu Tage liegenden deutschen Lage ist dann das ganze Land, das ganze Volk gefragt, sich eine andere politische Führung zu suchen als jene, die heute halt da ist. Denn diese, der Parteienstaat, kann es nicht. Und glaube bitte niemand, dass dafür andere Pareienkonstellationen die Antwort wären. Nein, nachdem nach 1945 auch im Westen keine stabile Demokratie entstand, in der Freiheit durch Recht nachhaltig verwirklicht wurde, steht diese Aufgabe neuen Generationen bevor.
Wie auch immer das Land mit dem Megathema Einwanderung zurecht kommen wird, danach wird ein Staat zurückbleiben, in dem die Freiheit der Bürger unter die Räder von viel zu viel Staat gekommen sein wird. Bis es die Herrschaft des Rechts gibt, das unabhängig vom Staat die Freiheit der Bürger garantiert, ist noch ein weiter Weg. Ich denke, er kann nur in neuen Strukturen gefunden werden, die auf den in der globalen Welt einzig stabilen beruhen, den lokal und kleinregional gewachsenen (auch das Stoff für viele Geschichten).