Die Darstellung des Ergebnisses der Schweizer Nationalratswahlen in den Salzburger Nachrichten ist ebenso korrekt wie konventionell:
„Die rechtsgerichtete Schweizerische Volkspartei (SVP) verlor an Rückhalt, blieb mit 25,6 Prozent der Stimmen aber stärkste Kraft. Sie büßte im Vergleich zur letzten Wahl knapp vier Punkte und damit zwölf Mandate ein. Sie stellt im neuen Nationalrat mit mehr als 50 Abgeordneten aber weiterhin die größte Gruppierung. Die Grünen gewannen 17 Abgeordnete hinzu und sind mit 28 Mandaten fortan viertstärkste Kraft im Nationalrat. Die Grünliberalen legten um neun Mandate auf 16 Abgeordnete zu.
Die Sozialdemokratische Partei (SP) kam als zweitstärkste Kraft auf 39 Sitze, die rechtsliberale FDP auf 29 Sitze und die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) auf 25 Sitze. Alle drei Parteien verbuchten Stimmverluste.“
Auch der Erklärungsansatz der Zeitung ist nicht falsch:
„Experten gingen davon aus, dass die grünen Parteien angesichts der Klima-Debatte viele junge Wähler mobilisieren konnten, die sonst den Wahlurnen fern geblieben wären. Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Oscar Mazzoleni gelang es der SVP hingegen nicht, mit ihren Warnungen vor einer ‚Klimahysterie‘ junge Wähler anzusprechen.“
Der Fokus auf die Parteien ist verständlich, da sie als Organisationsform der Politik das Bild in Medien und Öffentlichkeit dominieren. Was gerade in der Schweiz schade ist, weil die Fragen des wirklichen Lebens der Bürger in den Ortschaften, Gemeinden und Kleinregionen von den Parteien am allerwenigsten bestimmt sind. Weil den meisten Bürgern grad egal ist, was die dort in Bern treiben.
Beim Blick auf die Wahlberechtigten habe ich mich mit den Jahrzehnten immer mehr von den bei Journalisten, Politologen und Berufspolitikern üblichen Mustern der Erklärung von Wahlverhalten und Wahlmotiven entfernt. Der Reihe nach:
Treue Mitglieder und Anhänger von Parteien – auch Stammwähler genannt – sind der Meinung, dass im Programm ihrer Partei das Wahlmotiv liegt. Keine einzige Partei käme mit solchen Programmwählern allein je über die Prozenthürden in den verschiedenen Ländern. Die sogenannten Spitzenkandidaten ziehen Wähler in nennenswerten Mengen nur an, wenn sie aus der Masse ihrer Parteigänger deutlich herausragen. Aber auch sie erklären große Wählerbewegungen nicht.
Es ist viel einfacher. Erst einmal teilen sich die Wahlberechtigten in zwei Großgruppen: Wähler und Nichtwähler.
Ich behaupte, der Anteil der politisch besonders interessierten, informierten, kritischen und eigenständig urteilenden Bürger ist unter den Nichtwählern dramatisch höher als unter den Wählern aller Parteien. Aber mit den Nichtwählern, dem größten Teil der Wahlberechtigten, befasst sich die Classe Politique nicht ernsthaft.
Die Wähler unterscheide ich in Gewohnheits-Wähler, Gegen-Wähler und Mit-Wähler. Stammwähler und Wechselwähler war vorgestern.
Gewohnheitswähler und Stammwähler sind heute praktisch deckungsgleich. Lieschen und Otto Müller – mit und ohne Dr. – machen ihr Kreuz bei Wahlen schon seit ihrer Jugend immer an der gleichen Stelle. Hauptgrund: in ihrem Milieu, ihrem Umfeld tut man das. Hilfsgrund: die anderen Parteien sind noch schlimmer.
Gegen-Wähler sind nahezu deckungsgleich mit Wechselwählern und stellen den höchsten Anteil am Stimmensplitting. Gegen-Wähler ist nicht selten die Vorstufe zum Nichtwähler. Hauptmotiv: Denkzettel. Zweitmotiv: das kleinere Übel.
Das größte Übel sind die Mit-Wähler. Sie folgen dem von den Massenmedien vorgegebenen Trend (politische Inhalte interessieren sie nicht). Genosse Trend trägt zur Zeit die Farbe Grün. „Klimaschutz“ ist nicht das Ziel, „Klimaschutz“ ist für Grüne und Co. mithilfe der sie hätschelnden Journalisten die General-Ermächtigung, den Bürgern in allen Fragen vorschreiben zu dürfen, wie sie zu leben haben und wie nicht.
Zwischenbemerkung: Die vom Trend durch Stimmverluste negativ betroffenen Träger der anderen politischen Farben Schwarz, Rot, Gelb und auch Blau folgen dem Trendträger Grün beim „Klimaschutz“ in abgeschwächter Form und merken nicht, dass sie den Trendträger damit stärken uns sich selbst schwächen.
Die Mit-Wähler entscheiden sich für’s Original, nicht eine Kopie. Sie wollen bei den „Richtigen“ ganz dabei sein. Wenn eine politische Losung wie heute die vom „Klimaschutz“ das ganze öffentliche Klima durch die von Massenmedien veröffentlichte Meinung beherrscht, bricht der früher zuverlässige Damm der Gewohnheitswähler. Das erste unübersehbare Opfer ist die SPD. Eine SPD, die nur noch eine Kopie der Grünen sein will, braucht es neben denselben nicht. Die Union ist auf dem gleichen Holzweg.
Wenn der eine oder andere Leser den Eindruck hat, ich hätte den Ausdruck Mit-Wähler wegen seiner Wortnähe zum Begriff Mitläufer gewählt, liegt er damit richtig. Der plötzlich übergroße Zulauf zu den Grünen ist in Deutschland bisher nur ein demoskopischer. In der Schweiz fiel er nun bei der tatsächlichen Wahl für die Grünen und Grünliberalen nicht so groß aus wie der demoskopische in Deutschland, aber durchaus deutlich – bei den Eidgenossen verläuft alles langsamer und moderater, hält dafür dann länger.
Worauf ich hinaus will, ist etwas sehr simples. Mit-Wähler entscheiden sich nicht für eine Partei, sondern ein Image. Grün genießt heute das (ver)öffentlich(t)e Image, die Welt von morgen zu repräsentieren. Mit-Wähler wollen modern sein, wollen zu denen mit Zukunft gehören, zu denen zählen, von denen ein Lied der einst modernen Arbeiterbewegung sang: mit uns zieht die neue Zeit.
Eingangs zitierte ich zum Wahlausgang in der Schweiz:
„Experten gingen davon aus, dass die grünen Parteien angesichts der Klima-Debatte viele junge Wähler mobilisieren konnten, die sonst den Wahlurnen fern geblieben wären. Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Oscar Mazzoleni gelang es der SVP hingegen nicht, mit ihren Warnungen vor einer ‚Klimahysterie‘ junge Wähler anzusprechen.“
Wie fundiert die Behauptung von der Mobilisierung junger Nichtwähler ist, weiß ich nicht. Plausibel scheint sie mir durchaus. Aber dass die Schweizer Volkspartei – wie jede andere – mit rationalen Argumenten gegen „Klimahysterie“ keine neuen Wählerschichten erschließen kann, liegt auf der Hand. „Klimaschutz“ ist eine emotionale Kategorie, eine von den Massenmedien so hoch emotional verbreitete und täglich unterstützte, der zur Zeit niemand etwas Wirkungsvolles entgegen zu setzen hat. Was aber auch bedeutet, wenn der Klimahype endet, plumpsen Grüne und Co. von jetzt auf gleich ins Nichts.
Gemeinsam ist den Wahlergebnissen in ganz Westeuropa, dass die Parteien mit dem Image des Gestern verlieren und die mit dem Image des Morgen gewinnen. Mit-Wähler sind Mitläufer. Sie laufen morgen zu der politischen Kraft über, die der Gruppierung von Grünen und Co. das Image des Morgen wegnimmt. Eine solche Kraft ist bisher nicht in Sicht: Eine Partei kann das auch gar nicht. Parteien profitieren vom Zeitgeist, sie erschaffen keinen.