Gerald Knaus schuf den Merkel-Deal mit Erdogan. Trotzdem ist er auch in der politik-affinen Öffentlichkeit wenig bekannt. Das scheint auch seine Absicht zu sein. Was bei jemandem, der mit großem Engagement unübersehbar wirkungsvoll Einfluss ausübt, sehr verständlich ist. Dass er über einflussreiche Verbindungen verfügt, wird an einem Detail sichtbar, das manche überraschen wird. Es gibt keinen Wikipedia-Eintrag zu seiner Person: weder in Wikipedia deutsch, englisch oder französisch. Nur sehr wenigen gelingt es, bei „Jimbo” Wales, dem Gründer und Chef von Wikipedia, ein solches Aussparen eines Informationsknotens zur Person zu erreichen. Viele haben das nicht geschafft und von etlichen, denen es gelang, wird immer wieder hartnäckig behauptet, das habe sie viel Geld gekostet. Der Nutzen? Wer auf Wikipedia keinen Personeneintrag hat, über den können an diesem Ort, an dem der typische Interneter als erstes nachschaut, keine Informationen – richtige wie falsche – zentral zusammengetragen und gefunden werden.
Wer sich ein Bild von Gerald Knaus machen möchte, findet in einem bewundernden Portrait von Mariam Lau in DIE ZEIT vom Juli 2016 eine gute Quelle, in der unter anderem steht:
»… das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei … sieht vor, jeden Flüchtling, der in Griechenland an Land geht, in einem geordneten Verfahren zurück in die Türkei zu schicken. Im Gegenzug soll die EU der Türkei syrische Flüchtlinge abnehmen. So sollte das Sterben auf der Ägäis ein Ende finden …
Das Abkommen wurde unter dem Namen „Merkel-Plan“ bekannt. Aber es war nicht die deutsche Kanzlerin, die sich den Plan ausgedacht hat. Es war auch keiner ihrer Mitarbeiter im Kanzleramt. Es war … Gerald Knaus.
Knaus ist Politikberater. Er leitet eine kleine, von ihm selbst gegründete Denkfabrik namens European Stability Initiative in Berlin, ESI. Es gibt Dependancen in Paris, Brüssel, Istanbul, Wien, Sarajevo und London.«
Wer in der Denkfabrik von Knaus arbeitet und wer sie unterstützt, also finanziert, steht auf der Homepage der ESI. Ein Lebenslauf von Gerald Knaus findet sich weder dort noch sonst im Internet. Aber Mariam Lau hat über die Person Knaus etliches in ihrem Portrait verteilt zusammengetragen. Es scheint sich bei Knaus um einen Mann zu handeln, der sich einer ganz persönlichen Mission verschrieben hat. Das habe ich weder zu kritisieren noch in Zweifel zu ziehen.
Warum ich trotzdem über Gerald Knaus hier schreibe? Wegen seines Gastbeitrags für DIE ZEIT vom 29. Dezember 2018. Titel: „Angriff auf Europa.” Untertitel: „Europas Rechtspopulisten haben sich verbündet: Sie planen einen Umsturz in der EU-Asylpolitik. Noch können wir uns wehren.”
Um es vorweg zu nehmen: Knaus liefert eine per Saldo realistische Einschätzung des wahrscheinlichen Ausgangs der Wahlen zum EU-Parlament im Mai 2019, eines möglichen Ergebnisses, das Knaus‘ politischen Zielen zuwiderläuft, was er in diese Worte fasst:
„Eine humane europäische Grenz- und Asylpolitik ist möglich. Was Orbán und Salvini anbieten, ist weder human noch europäisch noch alternativlos. Ob es Parteien der Mitte gelingen wird, dies glaubwürdig zu vertreten, könnte den Europawahlkampf 2019 entscheiden. Derzeit sieht es nicht danach aus.”
DIE ZEIT stellt dem Gastbeitrag von Gerald Knaus als Fragestellung voran: „Wie entkommt die EU der Logik von Migrationsgegnern in Mitgliedsstaaten? Wie sähe eine vernünftige Strategie aus, damit der Wahlkampf und das Wahlergebnis nicht von Xenophobie, Anti-Flüchtlingspolitik und Populismus bestimmt wird?”
Knaus beginnt so:
„Im August 2018 trafen sich der ungarische Premierminister Viktor Orbán und der italienische Vizepremier und Innenminister Matteo Salvini in Mailand. Sie verkündeten, im Europawahlkampf 2019 gemeinsam vorzugehen. Ihr Ziel: ein politischer Umsturz in Europa. Ihre Strategie: die Wahl zu einem Plebiszit über Migration zu machen, zu einer Abstimmung über die Unfähigkeit europäischer Eliten, Masseneinwanderung und Islamisierung zu stoppen.”
„Umsturz” bedeutet nach Duden die „gewaltsame grundlegende Änderung der bisherigen politischen und öffentlichen Ordnung durch revolutionäre Beseitigung der bestehenden Regierungsform”. Will Knaus mit der Formulierung „politischer Umsturz” sagen, der Vorgang wäre kein „Umsturz”, aber das Ergebnis?
Für einen Politikberater ist es kein Ausweis von Seriosität, eindeutig definierte Begriffe leichtfertig einzusetzen. Leichtfertig ist es, etwas „Umsturz” zu nennen und gleich im anschließenden Text so zu beschreiben: „… die Wahl zu einem Plebiszit über Migration zu machen, zu einer Abstimmung über die Unfähigkeit europäischer Eliten, Masseneinwanderung und Islamisierung zu stoppen.” Eine Abstimmung in den Mitgliedsländern der EU bei den Wahlen zu derem Parlament ist auch dann kein „Umsturz”, wenn diese Abstimmung in den Augen von Knaus „falsch” ausgeht.
Nach dem „Umsturz” setzt Knaus eine zweite semantische Marke, die sein Verhältnis zum zentralen kulturellen Wert der europäischen und westlichen Kultur in Frage stellt: zur Herrschaft des Rechts, des gleichen Rechts für alle. Gerald Knaus schreibt:
„Weder Madrid noch Paris haben derzeit einen Plan, was sie dagegen tun sollen. Und das, so Orbán und Salvini, wird so bleiben, bis Politiker wie sie überall an die Macht kommen und Europas Bürger schützen: mit Mauern, mit abschreckender Behandlung von Asylsuchenden, mit dem Kampf gegen Schlepper, mit dem Schließen aller Häfen.”
Knaus und andere dürfen natürlich gegen „Mauern” sein, gegen „abschreckende Behandlung von Asylsuchenden” und beides aus ihrer politischen Haltung ebenso ablehnen wie das „Schließen aller Häfen”. Aber wie passt der „Kampf gegen Schlepper” in diese Aufzählung? Nur dann, wenn alles erlaubt ist, was die unkontrollierte Migration möglich macht, wenn die Herrschaft des Rechts für das Migrationsgeschehen außer Kraft gesetzt wird. Knaus kennt sich zu genau aus, um nicht zu wissen, welche Strukturen von organisierter Kriminalität das Wort Schlepper bezeichnet – mit fließenden Grenzen zu NGOs und anderen Einrichtungen.
Gerald Knaus beschreibt nicht nur das Wahlkampfszenario für die EU zutreffend, sondern zugleich auch für die nationalen und regionalen Wahlkampfschauplätze in den kommenden Jahren:
„Die größte Stärke Orbáns und Salvinis ist ihre Fähigkeit, eine packende Geschichte zu erzählen. Es geht dabei um das Überleben der europäischen Zivilisation angesichts einer islamisch-afrikanischen Masseninvasion, mit Verrätern, Strippenziehern und mutigen Helden. Es ist ein Spannungsbogen, der schon Donald Trump zu seinem Wahlsieg verhalf: hier die scheinheilig schwachen, dort die entschlossen verantwortlichen Politiker.”
Mit dieser Geschichte – in der Sprache der politischen Freunde von Knaus in Medien, NGOs, Politik und Gesellschaft: diesem Narrativ – ist es wie schon immer in der Geschichte. Jede gute Geschichte muss einen wahren Kern haben, sonst funktioniert sie nicht. Die Zuhörer müssen in der Geschichte genügend wiedererkennen, was ihnen vertraut ist. Was Knaus befürchtet, ist nicht Orbáns und Salvinis „Fähigkeit, eine packende Geschichte zu erzählen”, sondern dass ihre Geschichte mehr „packt” als seine, Knaus‘ Geschichte von der segensreichen Migration um jeden Preis.
Genau das bestätigt Knaus in seinen Worten so:
„Die Kampagne gegen den UN-Migrationspakt, mit der es im Herbst gelang, eine unverbindliche Absichtserklärung zur Steuerung von Migration wochenlang als verdächtiges Projekt zu diskutieren, war ein Warmlaufen. Es bedarf nicht einmal mehr weiterer Migranten, um Orbáns Erzählung zu stützen: Es genügen die Bilder der vergangenen Jahre (hier: Tausende, die Grenzen überqueren; dort: Terror in Europas Städten), dazu die Rat- und Sprachlosigkeit anderer politischer Kräfte.”
Eine halbe Kapitulation ist es, wenn Knaus eine „geschlossene EU-Antwort” ausschließt, weil dafür „Salvini und Co. bereits zu stark” seien. Wie ein neuer Knaus-Plan, der dieses mal nicht „Merkel-Plan” heißen wird, klingt, was er als eine Antwort skizziert, „in der sich Liberale in Paris und Den Haag, Sozialdemokraten in Madrid und Berlin und Christdemokraten in Berlin und Skandinavien wiederfinden: eine Koalition betroffener Länder mit einem umsetzbaren mehrheitsfähigen Plan, mit klaren Zielen und Werten.”
Was Gerald Knaus dann als Inhalt einer solchen „Koalition betroffener Länder” als Melange von alten und nur scheinbar neuen Elementen beschreibt, will ich hier nicht referieren (wer will, kann es in seinem Artikel nachlesen). Knaus wird sicher noch in den kommenden Wochen und Monaten einen neuen Plan in den Hauptstädten und Hauptquartieren präsentieren, die er als Teil der EU gewinnen will für eine neue Koalition, die groß genug ist, an den Institutionen der EU vorbei zu agieren. Knaus gibt also nicht nur die Fraktion der Europäischen Volkspartei als bisherigen Machträger in Brüssel auf, sondern plant mit der „Koalition betroffener Länder” eine Rückzugslinie, wenn die Institutionen der EU selbst seinen Migrations-Plan nicht mehr tragen.
Gerald Knaus will mit der „Koalition betroffener Länder” Zeit gewinnen, um neue Kräfte gegen „Salvini und Co.” zu formieren. Seinen Befund, dass die alten Kräfte gegen „Salvini und Co.” nicht mehr ausreichen, teile ich. Wer an ihre Stelle treten könnte, kann ich von Rom bis Stockholm und Paris bis Berlin nicht sehen. Knaus sucht nach Kräften, die sein Verständnis von politischem Umsturz und Schleppern teilen, das dem kulturellen Wert der Herrschaft des Rechts diametral widerspricht. Da werte ich es als gutes Omen für 2019, wenn Knaus‘ neue Koalition nicht zustande kommt. Denn zur Herrschaft des Rechts duldet die Freiheit keine Alternative.