Auf ZEIT online lese ich: Die Angst in der CDU-Zentrale und im Kanzleramt muss wirklich groß sein, die Angst, dass die Partei der Kanzlerin in „ihrem“ kleinen nordöstlichen Bundesland bei der Wahl am Sonntag hinter die rechtspopulistische AfD zurückfällt. Es wäre eine historische Blamage für die CDU und eine weitere Quittung für Angela Merkels Flüchtlingspolitik. — Das motivierte die Kanzlerin offensichtlich, in diesen Tagen vor der Wahl zum zweiten Mal eine klare Botschaft abzusetzen. Am Mittwoch räumte sie in einem Interview erstmals Fehler in der Flüchtlingspolitik ein. Jetzt versicherte sie im Unionsfraktionsvorstand, es würden nie wieder so viele Flüchtlinge kommen wie im vergangenen Jahr. Die Priorität heiße jetzt „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“. — Wer will, kann darin eine Abkehr von ihrer Willkommenskultur sehen.
Zu TTIP lese ich auf Die Presse online: Widerstand gibt es nicht nur in Österreich, sondern auch in der mitregierenden SPD in Deutschland sowie durch die französischen Sozialisten unter Staatspräsident François Hollande. Auch die griechische Regierung unter Alexis Tsipras hat sich gegen TTIP ausgesprochen.
Die Liste lässt sich schier endlos fortsetzen. Ihr gemeinsamer Nenner: Um Politik in der Sache, um die Lösung (oder Vermeidung) von Problemen geht es nicht, um die Verwirklichung von Programmen politischer Parteien geht es schon Jahrzehnte nicht mehr. Es geht immer nur um eines, um das persönliche Bestehen von Politikern im Beruf Politik. Um nach oben zu kommen, tun sie viel, um oben zu bleiben, praktisch alles. Dass die Sensationssucht der Meinungsmachermedien sie dabei fortwährend in die falsche Richtung jagt, muss wenigstens erwähnt werden.
Bei den wechselnden Haltungen für und gegen TTIP geht es überhaupt nicht um das Für und Wider von Freihandel, auch nicht darum, ob und wie viel Freihandel in den Verträgen enthalten ist, die verhandelt werden. Es geht nur darum, ob es im Moment für das politische Wohlergehen des Politikers X und der Partei Y besser ist, für oder gegen TTIP zu sein. Deshalb war „man“ erst dafür und ist nun dagegen.
Wie soll ich mir erklären, dass sich Frau Merkel bei ihrer Willkommens-Politik aus moralischer Verpflichtung über EU-Recht, deutsches Recht und CDU-Programmatik hinweg gesetzt hat, um nun „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“ zur Priorität zu erklären? Anders als mit der Angst vor einer AfD, die im Landtag ihres Heimat-Bundeslandes mit mehr Abgeordneten einzieht als ihre Partei, geht das wohl nicht. Das Dumme ist nur, selbst wenn das geschieht, wird das noch lange nichts an meinem Befund ändern, dass die Berufspolitik ein Sargnagel der Demokratie ist.
Dass es den Sargnagel Berufspolitik nicht gäbe, wenn da der andere Sargnagel nicht wäre, sei für heute nur als Merkposten genannt: das praktisch grenzenlose Machtkartell der politischen Parteien durch gesetzliche und gewohnheitsrechtliche andere zahllose Privilegien für Parteien in den real existierenden Republiken Deutschland und Österreich.
Solange die zwei Sümpfe Parteienprivileg und Berufspolitik nicht einigermaßen trocken gelegt sind, kann sich die Qualität des Öffentlichen nicht ändern. Machen lässt sich das im Übrigen nur zusammen mit einer radikalen Dezentralisierung des Staatlichen bei weitgehender Befreiung der Bürgergesellschaft aus den Klauen des Staates. Auf allen Ebenen.
Wie das gehen soll? Heute in Mecklenburg-Vorpommern wird der Druck größer werden durch das Fomat der Denkzettel für die Vertreter des Status Quos. Aber der Druck wird noch nicht groß genug sein, auch nicht nach Berlin, wahrscheinlich noch nicht nach der Bundestagswahl 2017 (und der Nationalratswahl 2018 in Österreich). Aber es wird überall um uns herum auch anderswo in Europa (und Nordamerika) gewählt. Eine so gemeinsame und gleichzeitige Krise der westlichen Demokratien gab es noch nie seit den Zeiten des Faschismus und Nationalsozialismus. Diese Katharsis wird vermutlich sehr schmerzhaft verlaufen, aber den Weg frei machen für die Freunde der offenen Gesellschaft von selbstverantwortlichen Bürgern und IHRER Institutionen. Am Wahlsonntag ist ein solcher Exkurs vom Kleinen zum Großen wohl zulässig.