Tichys Einblick
Zeitenwende

Die NATO war, der Staatssozialismus ist

In Deutschland, spottet ein alter Freund am Potomac, gibt es doch gar keine denkbare Regierung, die der Bundeswehr einen Einsatzbefehl erteilen würde. Er fragt: Warum sollte irgendeine Anstrengung unternommen werden, die Bundeswehr einsatzfähig zu machen?

© Getty Images

Mit der NATO bildeten die USA einen militärischen europäischen Ring rund um die Sowjetunion, der klarstellte, wir, die Vereinigten Staaten von Amerika, sind die alleinige Supermacht, The American Empire: Washington ist das neue Rom. Zu diesem Zweck unterhielten die USA in NATO-Ländern Militärstützpunkte: 23 der Army, 10 der Air Force, 6 der Navy – mit etwa 70.000 stationierten US-Soldaten. Die USA haben das nicht Westeuropa zuliebe getan, aber es hat Westeuropa genutzt, sich selbst militärisch nicht sichern zu müssen, was es auch nicht gekonnt hätte. Dass die NATO auch dazu gedacht war, die Deutschen unter Kontrolle zu halten, hier nur als Fußnote.

70 Jahre nach dem NATO-Vertrag bleibt jenseits von Festreden und Freundesformeln als Sprachregelungen festzuhalten, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht die NATO, die Möglichkeit einer Expansion der UdSSR nach Westeuropa praktisch unmöglich machten. Die KPdSU ließ die Rote Armee jedenfalls nicht aus Friedensliebe zusammen mit der Nationalen Volksarmee daheim. (Auf die anderen Ostblockarmeen hätte sich die Sowjetunion nicht verlassen können, was das ZK der KPdSU sehr genau wusste.)

Ob die Russische Föderation als Nachfolger der implodierten Sowjetunion militärisch ein Grund für die USA ist, an der NATO festzuhalten, wird in einschlägigen Kreisen der USA kontrovers diskutiert. Die radikalste Gegenposition in den USA sagt, hören wir auf, den Weltpolizisten zu geben, nicht nur in Europa, sondern überall. Dass der militärisch-industrielle Komplex seinen Einfluss nicht verloren hat, zeigt die Selbstkorrektur von Präsident Donald Trump in Sachen NATO. Nachdem er sie zunächst zutreffend als nicht mehr nötig einstufte, konzentriert er sich nun auf die Geldforderungen an die NATO-Staaten – die Bundesrepublik Deutschland an erster Stelle. Dass dies jedoch der Anfang vom Ende der NATO ist, wissen alle kundigen Militär-Thebaner auf beiden Seiten des Atlantiks.

Militärisch ist den USA natürlich genau bekannt, welche Teile welcher Streitkräfte der Staaten der NATO überhaupt kampffähig sind. Das Pentagon notiert in allen Details, von welchen Teilen der Bundeswehr das noch gesagt werden kann – trotz des geradezu dagegen handelnden Bürokratiemonsters namens Bundesministerium der Verteidigung.

Der nüchterne Blick auf die Streitkräfte der westlichen Welt scheint die breite Öffentlichkeit nicht zu interessieren und die Welt der Kundigen könnte triftige Gründe haben, darüber öffentlich nicht zu reden. Der Kern der Erkenntnis ist nämlich, dass nur Berufsarmeen kampffähig sind. Innerhalb von wehrpflichtigen Streitkräften gibt es Einheiten, die dem gleichkommen. Doch weniger höflich ausgedrückt heißt das: Kriegsfähig sind nur die Staaten im Westen mit Söldner-Armeen – allen voran die USA, dann Großbritannien und vielleicht noch Frankreich.

In der Bundesrepublik Deutschland, spottet ein alter Freund am Potomac, gibt es doch gar keine denkbare Regierung, die der Bundeswehr einen Einsatzbefehl erteilen würde. Er fragt: Warum also sollte irgendeine Anstrengung unternommen werden, die Bundeswehr einsatzfähig zu machen?

70 Jahre NATO: Konsequent wäre es gewesen, sie nicht so alt werden zu lassen, sondern ihr mit allen Feiern und Ehrungen zum 50zigsten im Jahre 1999 das Zeugnis auszuhändigen: Mission Accomplished. So aber wird ihr Ende eines Tages unnotiert vor sich gehen, würdelos wie so vieles in der Massenmediendemokratie.

Ich weiß, das so auszusprechen, ist in der Berliner Republik nicht üblich. Das ist eine zweite Betrachtung erst recht nicht. Als Zwischenfrage an Sie, werte Leser, erlaube ich mir diese:

Halten Sie es für einen Zufall, dass die sogenannte Soziale Marktwirtschaft, die von Ludwig Erhard nicht gern zugestandene PR-Formel für die Freie Marktwirtschaft, parallel zur Abnahme des Kalten Krieges an Zustimmung verlor und seit dem Ende des Kalten Krieges eine aussterbende Spezies von Wirtschafts- und Sozialordnung wird?

Die neuere deutsche Geschichte ist eine des Sozialismus

Die These wächst in mir seit den 1990ern, in den letzten Jahren mit zunehmender Eindringlichkeit: Die politische Auseinandersetzung fand in Deutschland und Europa (zu dem sich England nicht zählt) in der politischen Wirklichkeit – anders als in den Hochschulen und Akademien – nicht zwischen Liberalismus, Konservativismus und Sozialismus statt, sondern zwischen verschiedenen Graden von Sozialismus.

Inzwischen gleicht sich die Befassung mit den genannten Ismen auch an Hochschulen und Akademien der politischen Praxis an. Es stehen sich keine konkurrierenden Geistesrichtungen mehr gegenüber und befruchten sich durch ihren Wettbewerb. Alle sind bemüht, den richtigen Grad von Sozialismus zu finden, das Geistesgefängnis der Minderheiten-Diskriminierungs-Gender-Klima-Hysterie hat das Geistesgefängnis des Kalten Krieges abgelöst.

Der politische Pateientyp, der in Westeuropa nach 1945 als antikommunistisches Instrument geschaffen wurde, um den radikalen Sozialismus nach Marx durch einen gemäßigten fernzuhalten, waren die Christdemokraten. Sie waren eine neue, durch keine Vorgänger im deutschen Nationalsozialismus und italienischen Faschismus  vorbelastete Formation. Den Sozialdemokraten und Kommunisten waren ihre Anhänger in Massen zu Hitler und Mussolini übergelaufen, auf ihrer breiten Zustimmung beruhte die Herrschaft der Diktatoren. Die Minderheit ihrer eigenen fanatischen Parteigänger allein hätte die unglaubliche Loyalität der Massen bis in die letzten Stunden der militärischen Niederlage nicht bewerkstelligen können. Warum eigentlich steht die Tatsache, dass der NS-Staat nicht politisch scheiterte, sondern nur militärisch, so gar nicht im Zentrum der Betrachtungen und Darstellungen der Geschichte in den Wissenschaften und Medien?

Mit dem Abflachen des Kalten Krieges wurden die Christdemokraten als soziale Antikommunisten zuerst in Italien funktionslos. Während CDU und SPD in der Bonner Republik noch dabei waren, sich bis zur Ununterscheidbarkeit anzugleichen, zerfiel die Democrazia Christiana in Splitterparteien. In der Bonner Republik fingen CDU und SPD erst spät an zu begreifen, dass die Grünen keine vorübergehende Erscheinung sein würden. Sie ahnten nicht, dass die Grünen in der Berliner Republik den Sozialdemokraten die Wähler wegnehmen würden und den Christdemokraten die politisch-geistige Führung.

70 Jahre NATO: In den Festreden spricht es keiner aus. Die geistige Basis der NATO war wie der des Kalten Krieges und der Christdemokratie der Antikommunismus und nicht das Eintreten für Freiheit durch Recht. Die UdSSR ist Geschichte. Der Sowjetkommunismus ist in Russland wie der SED-Kommunismus in der Berliner Republik, Abteilung Ost, Folklore. Die Minderheiten-Diskriminierungs-Gender-Klima-Hysterie verdanken Deutschland und Europa wie weiland die NATO wieder den USA.

Die Bewegungen gegen die Minderheiten-Diskriminierungs-Gender-Klima-Hysterie sind auf beiden Seiten des Atlantiks noch nicht einmal in Umrissen zu erkennen. Donald Trump führt keine Freiheits-Bewegung (die es dort nicht gibt), sondern repräsentiert das Nein zum dort linksliberal genannten Establishment der Partei der Demokraten und ihres gesellschaftlichen Zeitgeist-Reiches mit den Machtquartieren in Hollywood und Chicago. Auch Matteo Salvini, Viktor Orban und andere stehen für das, was sie nicht wollen, und nicht für einen politischen Entwurf von Freiheit und Recht.

Im Schutz der NATO wehte für einige Zeit der angelsächsische Wind von Freiheit und Recht durch Deutschland und Europa. In dem Maße, wie sich der äußere Feind Kommunismus verzog, etablierte sich der Staatssozialismus drinnen (welche Kontinuität das mit Blick auf die Diktaturen darstellt, ist eigene Beiträge wert). Mit der Minderheiten-Diskriminierungs-Gender-Klima-Hysterie ist der leise Staatssozialismus dabei, sich laut in sich selbst zu überschlagen.

Die NATO war, der Staatssozialismus ist. Doch er hat keine Chance, 70 zu werden, auch nicht 50, nach denen die NATO in Wahrheit aufhörte zu sein. Dafür dass der Staatssozialismus abtritt, sorgt er selbst. Schau’n wir mal, wie weit er damit schon bei den EU-Wahlen Ende Mai kommt.

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