Tichys Einblick
Mitte ist kein Standpunkt

Die Linke, die Rechte und die mitteste Mitte

Neue Parteien können den eingerosteten Laden aufmischen, mehr nicht. Für Politik statt Laien-Verwaltung braucht es das Direktwahlrecht, Personen, die direkt zur Verantwortung gezogen werden können. Streicht die Parteien im Grundgesetz.

Über die Frage, „warum der Abgrund, der sich zwischen besorgten Bürgern und der Restgesellschaft auftut, mehr von kulturellen, denn von sozioökomischen Faktoren getrieben ist“ sollte der Blogger Michael Seemann einen Beitrag für Jungle World schreiben. Was er tat, um verspätet zu erfahren, dass „die linke Wochenzeitung“ (Selbstbezeichnung), seinen Text nicht bringt. Seemann dazu auf seinem Blog:

„Ich finde das schon recht lustig, denn die Jungle World gilt gemeinhin als linkes Krawallblatt, das gerne kontroverse, die Linke herausfordernde Thesen in die Welt bläst, was ich durchaus zu schätzen weiß. Um so erstaunter bin ich, wie wenig Mut man hat, auch mal Texte zuzulassen, die wiederum den eigenen Narrativen zuwiderlaufen. Aber so ist das ja oft: gerne austeilen, aber nicht einstecken können.“

Seemanns Text erschien also bei ihm selbst – und der Tagesspiegel druckte ihn einen Tag später nach. Beides wäre mir wohl entgangen, hätte nicht eine Leserin von Tichy’s Einblick auf den nachdenkenswerten Beitrag aufmerksam gemacht – mit einem nachdenklichen Kommentar:

„Dieser interessante Text … ist nicht besonders stringent …, ich teile auch nicht alle Schlüsse, die der Autor zieht – und doch kratzt er an etwas enorm wichtigem.

Er verdichtet manche Gedanken, die mich schon eine Weile begleiten,
die große Verschiebung innerhalb der Gesellschaft, … wenn die Sorge um unser Land und unsere Gesellschaft auf einmal gesellschaftliche Gruppen eint, die sich im alten politischen Gefüge gegenüberstanden.

So sieht der Autor auf der einen Seite die Altparteien, die Medien und
die jungen, mobilen Globalisten und die Linken.

Auf der anderen Seite sieht er das (konservative) Bürgertum, den Schulterschluss mit Arbeitern und Rechten suchen (und im Falle von England finden), die sich gemeinsam gegen die Globalisierung und ihre Folgen stemmen.

Über die vielbesprochene Mitte der Gesellschaft sagt er nichts – obwohl sie die kritische Masse ist, die den Schwenk in die eine oder andere Richtung manifestieren wird.

Ich finde seinen Ansatz sehr interessant. Ich meine diese Tendenzen zu
sehen und zu fühlen, in den Publikationen, im Alltag. In England hat sich
mit dem Brexit schon etwas davon verwirklicht und zugleich schwächt es dort
die rechtspopulistische Bewegung wieder ab, da eine ihrer zentralen Forderungen erfüllt wurde.

Können Sie in diesen neuen Allianzen die Keimzelle einer selbstverantwortlichen bürgergetragenen Politik erkennen, von der Sie immer mal wieder schreiben?“

Schauen wir mal, was Seemann selbst sagt:

„Die westliche Welt ist in heller Aufregung. Von überall her sprießen neue rechte Bewegungen aus dem Boden oder gewinnen an Fahrt. Von Trump, über AfD, FPÖ, Le Pen bis zu Brexit scheinen sie Leuten eine Stimme zu geben, die vorher glaubten nicht zu Wort gekommen zu sein. Seitdem wird abseits der ‚besorgten Bürger‘ gerätselt, was die Ursachen für diesen Unmut sein könnte.“

Und:

„Es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade die Linke hier einen gespenstischen Wiedergänger ihrer Selbst gefunden haben zu glaubt. Und so sind auch die interpretatorischen Vereinnahmungsversuche nicht weit. Das seien alles Globalisierungsverlierer, vom kapitalistischen System abgehängte, die hier ihre politische Stimme finden. Die rüsten für den Klassenkampf, aber haben aufgrund ‚falschen Bewusstseins‘ nur noch nicht realisiert, dass ihr eigentlicher Feind der Kapitalist ist.“

Zwar sei richtig, sagt Seemann, dass sich ein Gutteil Frustrierte aus „geringverdienenden und wenig gebildeten Dienstleistungsarbeiter/innen speist“. Aber die zweite Gruppe sei fast genau so groß: das mittlere Bürgertum. Heinz Bude spräche schon „von einer strategischen Allianz aus Arbeiterschaft und frustriertem Bürgertum“. Die Motivlagen prekär Beschäftigter ließen sich marxistisch deuten, aber die Wutbürger passten nicht so recht ins Bild. Seemann fragt:

„Ist das nicht ein merkwürdiger Klassenkampf, in der Arbeiter und Bürger Seit an Seit gemeinsam kämpfen?“

Das, was für die Linke das Gegen-Narrativ ist, beschreibt Seemann so:

„Es gäbe gar keine echte Demokratie mehr, sondern nur noch die Einheits-Blockpartei CDUSPDFDPGRÜNELINKE. Auch die Medien (‚Lügenpresse‘) steckten mit unter der Decke.“

Und:

„Es ist leicht, diese Vorstellungen als Spinnerei abzutun, aber wenn man sich die drei wesentlichen Eckpfeiler der neurechten Programmatik besieht – Migration, Globalisierung und Political Correctness – dann ist nicht zu leugnen, dass es in diesen Bereichen tatsächlich einen gewissen Grundkonsens in den Medien und Parteien (die CSU mal ausgeschlossen) gibt. Ein Konsens, von dem allerdings gerne angenommen wird, dass es ein gesamtgesellschaftlicher Konsens ist.“

Das ist es exakt, was jede Debatte zwischen dem, was wir Links und Rechts nennen, unmöglich macht. Was für die Linke gesamtgesellschaftlicher Konsens ist, hält die Rechte für die Verzerrung der Wirklichkeit durch die „politische Klasse“ (was die Medien und die größten Teile der organisierten Gesellschaft einschließt). Ich stelle dazu meine These in den Raum, dass es eine „politische Mitte“ als dritten politischen Standort, der weder Links noch Rechts ist, gar nicht gibt („die mitteste Mitte ist der nullste Nullpunkt“: Copyright Theo Schiller). „Die Mitte“ sind in Wahrheit jene Mitbürger, die sich weder Links noch Rechts eindeutig einordnen (lassen). Was dadurch nicht leichter wird, dass es viele Positionen gibt, die weder Links noch Rechts sind.

Ihr größtes Kunststück ist vielen Grünen gar nicht bewusst: Alle (außer neue Zuwanderer) sind für Mülltrennung. Was selbstverständlich nicht heißt, dass sie selbst den eigenen Müll wirklich korrekt trennen. Das zweitgrößte ist die Ablehnung jeder Form von Atomenergie, die von der Mehrheit der Anhänger aller alten und neuen Parteien geteilt wird. Dass wir Menschen die Klimaentwicklung beherrschen können, findet ähnlich breite Zustimmung.

Selbst die Abneigung und Zuneigung zu den alten und neuen Antagonisten in der Weltpolitik, den USA und Russland, teilen sich große Minderheitenminderheiten Links und Rechts, wie das ZDF neulich spektakulär ins Bild setzte:

Die Liste der Beispiele kann jeder selbst fortsetzen, indem er sich in seinem Umfeld umschaut. Worauf ich hinaus will, ist etwas sehr Einfaches. Lange Zeit gab es Parteien, in denen man mit welchem persönlichen Mix von Links- und Rechts-Positionen auch immer nicht groß auffiel, sondern recht friedlich nebeneinander saß: die Volksparteien CDU und SPD. Beide sind kontinuierlich dabei, ihre einstmalige Bindungswirkung zu verlieren, ein Prozess, der sich nicht umkehren lässt. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung hat nicht nur die deutsche Gesellschaft in der Migrationskrise erreicht, in Seemanns Formulierung:

Es gäbe gar keine echte Demokratie mehr, sondern nur noch die Einheits-Blockpartei CDUSPDFDPGRÜNELINKE.“

Die Freunde der AfD werden es nicht hören wollen: Auch die Mehrheit ihrer Anhänger hat in vielen Fragen jenseits von Einwanderung und Islam in dieser Einheitsmeinung Platz. Insofern war das veröffentlichte Gefühl nicht falsch, dass es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, exakt diesem Gefühl folgte meiner Meinung nach Merkel im September 2015 in der Gewissheit, sich damit wieder einmal an die Spitze der Stimmung zu setzen. Doch die plötzliche Einwanderungswelle hat genau diesen Konsens gesprengt. Nicht sofort, erst einmal schwamm Merkel auf derselben breiten Zustimmungswelle wie beim urplötzlichen Atomausstieg. Doch dann spalteten die täglichen Bilder und Meldungen von Einwandererscharen den Konsens. Das Ausmaß dieser Spaltung geben die Meinungsführer-Medien noch immer nicht wieder. Schaut man in die Redaktionen, finden sich dort die gleichen Gegensätze wie überall in der Gesellschaft, da offen ausgetragen, dort unterdrückt.

Spätestens beim nächsten Passus von Seemann verstehe ich, warum Jungle World seinen Beitrag nicht brachte:

„Hand aufs Herz! Ist es nicht erschreckend, dass man sich als Linker in so vielen politischen Fragen auf einmal an der Seite von Angela Merkel wähnt. Dass man anfängt, Projekte wie die Europäische Union zu verteidigen oder dass Yanis Varoufakis in pathetischem Ton verkündet, er wolle den Kapitalismus retten. Als genuin linkes Projekt!“

Der Linken hält er vor zu vergessen, „dass politische Verortung eine Frage der Perspektive ist“, dass „die besorgten Bürger in uns eine homogene Gruppe“ sehen, dass die Linke das nicht gewohnt ist, „weil es unserer Binnenwahrnehmung widerspricht“, was aber keine Rolle spiele, weil sie rechts so gesehen wird: „Donald Trump und das Alt-Rightmovement haben einen Namen für uns … ‚the globalists'“.

Seemann erinnert daran, dass Ralf Dahrendorf die „globale Klasse“ schon um die Jahrtausendwende beschrieben hat, heute gebe es

„eine globalisierte Klasse der Informationsarbeiter, der die meisten von uns angehören und die viel homogener und mächtiger ist, als sie denkt. Es sind gut gebildete, tendenziell eher junge Menschen, die sich kulturell zunehmend global orientieren, die die New York Times lesen statt die Tagesschau zu sehen, die viele ausländische Freunde und viele Freunde im Ausland haben, die viel reisen, aber nicht unbedingt, um in den Urlaub zu fahren. Es ist eine Klasse, die fast ausschließlich in Großstädten lebt, die so flüssig Englisch spricht, wie ihre Muttersprache … Diese neue globalisierte Klasse sitzt in den Medien, in den StartUps und NGOs, in den Parteien und weil sie die Informationen kontrolliert (liberal Media, Lügenspresse), gibt sie überall kulturell und politisch den Takt vor.“

Um nicht den ganzen Artikel wiederzugeben, reiße ich nur noch an, wo Seemann überdeutlich macht, weshalb es auf absehbare Zeit keine Debatte zwischen Links und Rechts geben wird, weil eine Linke, die sich von allem lossagt, was nicht dem „Niveau“ der „globalen Klasse“ entspricht, in ihrer Arroganz alle anderen als „kulturell Abgehängte“ einordnet:

Bis hierher hat Seemann der Linken „food for thought“ gegeben, Stoff zum Nachdenken. Zu einem Schluss oder einer Empfehlung für die Linke kommt er nicht, wenn er sagt:

„Und weil man gegen die globale Klasse nicht moralisch und argumentativ gewinnen kann, bleibt der alternativen Rechten nur noch, jede Moral und jedes Argument zu verweigern.“

Hier spricht er zum ersten Mal von „der alternativen Rechten“ und muss damit wohl den harten Kern der AfD und alles meinen, was rechtsaußen davon steht. Damit klammert er den wesentlich größeren Teil der Bürger aus, deren politische Meinung weiter aus Teilmengen von Links und Rechts besteht: und die deshalb bei ihren alten Parteipräferenzen bleiben, obwohl sie bei den heißen Themen Einwanderung und Islam mit ihren Parteien nicht (mehr) einverstanden sind. Diese Bürger bilden „die Mitte“. Aber mir geht es bei der Beleuchtung der Linken durch Seemann um einen anderen Punkt: Diese Linke, die sich für die „globale Klasse“ hält, besiegt sich selbst.

Schon alles vergessen?
Deutschland wanderte in die Bundesrepublik ein
Dass sie die alten linken Sprüche weiter klopft, mit denen sie früher das alte Establishment provozierte, ändert nichts daran, dass sie nun selbst das Establishment ist. Mit der Unterstützung von Merkel, die sie ihr auch nicht entzieht, seit die Kanzlerin Stück für Stück von ihrer bekundeten Position in der Migrationsfrage abrückt, hat sich die Linke zur nahezu alleinigen Stimme des Establishments gemacht, der die Mehrheit der Medien und der gesellschaftlichen Organisationen (noch) folgen. Die Linke überfrisst sich bei der langen Machtübernahme – nicht zuletzt an der Meinungsmacht. Establishment kann per definitionem nicht Links sein. Fortschrittlich ist heute nicht, wer für „mehr Europa“ – also mehr EU-Zentralismus – ist. Fortschrittlich ist heute, wer der Politik möglichst viel wegnimmt, was die Bürger auf eigenen Wegen selbst besser können, mit autonomen Schulen, von der kleinen Gemeinde, dem übersichtlichen Stadtviertel und den Kooperationen der kleinsten Einheiten aufwärts. Wird dieser Weg konsequent gegangen, werden sich viele wundern, für wie wenige, allerdings sehr wichtige Funktionen „höhere“ Ebenen gebraucht werden.

Neue Parteien können den eingerosteten Laden aufmischen, mehr nicht. Soll Politik an die Stelle der politischen Laienverwaltung treten, braucht es ein Direktwahlrecht, muss Politik von Personen gemacht werden, die der Wähler einzeln zur Verantwortung ziehen kann. Und da Forderungen, die Aufmerksamkeit und Zustimmung finden sollen, auf ein Plakat passen müssen: Streicht die Parteien im Grundgesetz. Als Appetizer. Eine Reform der Republik an Haupt und Gliedern war schon 1989 überfällig. Was Wiedervereinigung genannt wird und in der Sache ein Anschluss war, hat den westdeutschen Parteienstaat in die Berliner Republik gerettet, wo er sich noch viel mehr aufgebläht und ausgebreitet hat. Es ist höchste Zeit, die aufgeschobene Diät nachzuholen. Doktor Volk, bitte übernehmen.

Die Establishment gewordene Linke, die sich in Verkennung der Welt und der Menschen für die „globale Klasse“ hält, ist „moralisch und argumentativ“ zahnlos. Für eine neue Politik, ich schrieb es schon, braucht es Intelligenteres als Parteien.

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