Die Gemeinde der besonders engagierten Beobachter des Zeitgeschehens teilt sich in zwei ganz andere Lager, als jene, von denen gewöhnlich die Rede ist. Im einen sammeln sich jene, die meinen, dass die grundlegenden Probleme des Jahrhunderts innerhalb der überkommenen Politstrukturen gelöst werden können. Im anderen sind jene, die zur Überzeugung gelangt sind, dass die politischen und wirtschaftlichen Strukturen durch neue ersetzt werden müssen, sollen die Großprobleme überhaupt nur erst einmal angepackt werden können – für den außer Kontrolle geratenen deutschen Parteienstaat gilt dies noch mehr als anderswo im Westen.
Ob Macron wirklich eine Politik machen will, die Frankreich strukturell verändert, bezweifle ich, aber dass er mit seiner „Bewegung“ einen neuen Weg versucht, ist ein deutliches Symptom für das Ende der alten Strukturen. Mit den bisherigen „Volksparteien“ scheitern nicht nur sie selbst, sondern Parteien als einzige oder maßgebliche Träger der Politik insgesamt. Die erste Volkspartei, die dieses Schicksal ereilte, war die Democrazia Christiana Italiana. Italien hat seitdem beispielhaft vorgeführt, dass mit neuen Parteien nichts erreicht werden kann, weil sie auch wieder nach den alten Regeln und in den alten Strukturen arbeiten müssen und von dieser Einschleifmühle vereinnahmt werden.
Dass der neue Mann an der Spitze der österreichischen Volkspartei, Sebastian Kurz, eine Liste zur Nationalratswahl aufstellt, auf der es nicht Bedingung ist, Mitglied seiner Partei zu sein, ist ein identisches aktuelles Symptom. Die NEOS reklamieren diesen Ansatz von etwas Neuem jenseits der überkommenen Parteien für sich selbst von Beginn an, haben es aber bisher nicht vermocht, dem Anspruch Gestalt zu geben. Was immer Kurz von seinem Konzept verwirklichen kann, jedenfalls hat es das Potential, das verkrustete österreichische Gefüge von Öffentlich-Rechtlicher Arbeiter- und Wirtschafts-Kammer und vielen anderen Machtzentren aufzubrechen, die bisher die Politik bestimmten.
Das gemeinsame an AfD und FPÖ ist an dieser Stelle, dass beide die verkrusteten politischen Strukturen nicht infrage stellen, sondern einfach nur eine aus ihrer Sicht „bessere“ Partei innerhalb der alten Strukturen sein wollen als die anderen. Die bleibende Folge der Beteiligung der FPÖ an der Bundesregierung in der Ära Jörg Haider ist der Einzug der „Freiheitlichen“ in die verkrusteten Strukturen, die Teilnahme an den dortigen materiellen Segnungen. Die Wirkung der FPÖ wie der AfD besteht darin, die anderen Parteien zu Änderungen ihrer Positionen bei den Themen Zuwanderung und innere Sicherheit zu bringen – bis dato mehr bis ausschließlich verbal, aber im weiteren Verlauf ihrer Etablierung auch im Bundestag und weiteren Landtagen sicher auch noch tatsächlich. Der Tag, an dem die bisher schon etablierten deutschen Parteien aufhören, die AfD wie bisher auszugrenzen, kommt am 24. September. Dann beginnt die Einschleifmühle Parteienkartell mit der Eingliederung der AfD wie bei den Grünen und der PDS. Spätestens wenn eine politische Stiftung der AfD in die Zuschusslisten der Bundesministerien aufgenommen wird wie seinerzeit die Heinrich-Böll-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung, hat das Parteienkartell auch diese Partei geschluckt.
Nein, wenn die Demokratien Europas in die neue Zeit eintreten und ihre Chancen wahrnehmen sollen, müssen sie die alten Polit-Strukturen hinter sich lassen. In Deutschland ist bisher keine politische Kraft sichtbar, die das Potential dazu hat. Wolfgang Herles schrieb hier vor ein paar Tagen:
„Macron gewann als Gründer einer Bewegung, die keiner Partei mehr nahestehen will. Trump gewann gegen das Establishment, indem er die Republikanische Partei kaperte, von deren DNA er so wenig hat wie von der DNA der Demokraten. Aber das heißt noch lange nicht, dass beide den alten Parteien etwas wirklich Neues entgegenzusetzen hätten.“ Und: „Wir wissen noch nicht, welche Staatsformen den technologisch-ökonomischen Bedingungen der Zukunft am besten entsprechen werden. Wahrscheinlich werden hochkomplexe Netzwerke die Antwort sein, nicht zentralistische Gebilde aus dem neunzehnten Jahrhundert.“
Dass als Folge von Regierungswechseln in Kiel und Düsseldorf sowie einer anders zusammengesetzten Koalition auf Bundesebene die grundlegenden Probleme ernsthaft angepackt oder gar einer Lösung zugeführt werden, halte ich für ausgeschlossen. Die Machtverteilung im Parteienstaat wird sich ändern, am Weiterbestehen des Machtkartells der Parteien nichts. Wie bei der „Reise nach Jerusalem“ tauschen die Kartellangehörigen hektisch die Sessel und irgendwer fällt raus. Aber die Reise irrt weiter im ewig selben Kreis herum.