Tichys Einblick
Der Zeitgeist dreht seit 2018

Die EU demontiert sich selbst

Die kommenden Jahre werden nicht nur in der EU vom Kampf ihrer Mandarine gegen eine vielgestaltige Opposition in vielen Ländern geprägt sein, sondern parallel von der Ablösung der alten Formationen durch neue.

© Tobias Schwarz/AFP/getty Images

Hätten die Gegner einer weiteren Zentralisierung der EU einen Wettbewerb um deren Verhinderung ausgeschrieben, das Ergebnis könnte nicht optimaler sein als die präsentierten Personalien und verdeckten Begleitgeschäfte. Die schlechteste Bundesministerin Deutschlands soll Juncker nachfolgen, die Präsidenten des Parlaments der EU, das keines ist, sollen nacheinander ein Italiener der Sozialdemokraten und ein Deutscher der EVP werden, eine Frau aus Frankreich nach dem Mann aus Italien an die Spitze der EZB rücken und der Paris gehorsame belgische Premier den Rat der EU präsidieren – jene Runde also, auf die es alleine ankommt.

Jelte Wiersma beschreibt in seiner ganz anderen – europäischen – Sicht als praktisch alle deutschen Journalisten aus ihrer – provinziellen – Berliner Perspektive, dass der Sieger der Kungelrunden hinter den Tapetentüren Macron heißt und damit der Verlierer Merkel.

Es gibt aber auch andere Sieger. Die Osteuropäer haben ihren Lieblingsfeind Timmermans verhindert und Weber gleich mit – nur deshalb hoben sie die Hand für von der Leyen. Von Warschau bis Budapest sind die Regierungschefs auf den Geschmack gekommen, was sie alles bewirken können – zusammen mit anderen erst recht, um die sie sich noch mehr bemühen werden. Die Führung in Brüssel können sie nicht übernehmen, aber ihre Vetomacht ausbauen und Zugeständnisse heraushandeln für partielles Mitmachen oder Stillehalten. Die Gräben in der EU sind ausgehoben, jetzt werden sie zu festen Stellungen ausgebaut. In die alte Richtung geht kein wirklicher Schritt mehr, in die umgekehrte noch nicht.

Zwischengedanke

Tomas Spahn zeichnet spitz, welche Probleme in der Einrichtung, die „Europäisches Parlament” genannt wird, bei der Abstimmung über von der Leyen als Kandidat des sogenannten Europäischen Rates auftreten könnten. Mich bringen seine Gedanken auf einen anderen. Kommt wirklich keinem der vielen Journalisten mal in den Sinn, zu schreiben, worum es sich bei der EU wirklich handelt? Die Staatspräsidenten und Ministerpräsidenten (mancherorts Kanzler genannt) der Mitgliedsländer verwandeln sich auf dem Weg von ihren Haupstädten nach Brüssel auf wundersame Weise: von demokratisch gewählten und – jedenfalls so vorgesehen – ebenfalls demokratisch gewählten Abgeordneten in Parlamenten kontrollierten juristischen Personen in Könige. Denn was sie in Brüssel in diesem Rat entscheiden, nachdem sie es vorher in Hinterzimmern ausfeilschten, genehmigt und kontrolliert in ihren Ländern zuhause niemand. Die Mandarine in den Bürokratien der EU unterliegen ebenfalls keiner demokratisch legitimierten Kontrolle. In Brüssel sind die Regierungsoberhäupter nicht nur der demokratischen Fesseln zuhause ledig, sondern können Fragen in der EU regeln, die sie wegen der Demokratie in ihren Ländern dort nicht anpacken würden, wo aber Folgegesetze in den Ländern verpflichtend sein sollen. Und das sogenannte Parlament der EU ist eine Show, die Parlamentarismus und Demokratie vortäuscht, wo keines von beiden ist.

Die EU demontiert sich selbst

Hat sich die EU bisher schon zunehmend mit sich selbst beschäftigt, ohne von der Stelle zu kommen, wird das nun zu höchster Kunst entwickelt. Hinter dieser Kulisse – mit den Inszenierungen davor lassen sich Medien rund um die Uhr füttern – sind Kundige unterwegs, die ihre Interessen geschickt unter Dach und Fach kriegen. Aktuelles Bespiel Italien:

NGO, SeaWatch und Bootsführerin Rackete gerieten zur passenden Zeit zu unfreiwilligen Helfern  für Italiens Interessen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Bezug auf die EU – und für den nächsten Wahlsieg von Matteo Salvini, der sich nach aktuellen Umfragen bei 40 Prozent manifestieren könnte. Die Arroganz, mit der deutsche und französische Politiker Italien gegenüber auftreten, bringt nicht nur viele Italiener gegen Paris und Berlin auf, sondern auch viele Bürger in anderen Ländern der EU.

Die Mandarine der EU werden wie immer nicht einmal wahrnehmen, dass überall der politische Wind begonnen hat, sich gegen die Zentralisierung zu drehen. Wer gegen sie arbeitet, muss viel Geduld mitbringen. Der Geist der Mandarine der EU herrscht als Political Correctness in allen Institutionen aller westeuropäischen Staaten (von der Untersuchungsrichterin auf Sizilien bis zum BVerfG). Der Zeitgeist hatte gut 40 Jahre Zeit, sich einzunisten. Ein bloßer Regierungswechsel wie in Italien radikal oder in Österreich moderat reicht natürlich nicht, um das über Nacht zu ändern – aber sehr wohl, um mit den Änderungen zu beginnen.

Währenddessen irren die Protagonisten des Zeitgeists, wenn sie glauben, an der Macht bleiben zu können. Sie ahnen es, deshalb ihre weiter zunehmende Aggressivität. Das Ende ihrer Dominanz hat begonnen. Die kommenden Jahre werden nicht nur in der EU vom Kampf ihrer Mandarine gegen eine vielgestaltige Opposition in vielen Ländern zwischen den britischen Inseln und Sizilien geprägt sein, sondern parallel und verschränkt von der Ablösung der alten Formationen durch neue – in allen europäischen Ländern. Das Ende dieses Jahrzehnts lässt die Konturen des Umbruchs in den 2020ern erahnen. In die schlaff gewordenen Segel der Freiheit bläst frischer Wind.

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