Im „großen Kanton“, wie ein Schweizer Spitzname für Deutschland lautet, will schon ganz lange eine große Mehrheit der Deutschen viel lieber auch eine Schweiz sein als in der NATO, an der Seite der USA oder überhaupt im „politischen Westen“, wo immer nur ein Teil der politischen Klasse war.
Zum Treffen zwischen Joe Biden und Olaf Scholz schrieb Georg Gafron unter anderem: „Wegen der Souveränität der Ukraine wird es keinen Krieg zwischen dem Westen und Russland geben. Für Kiew kommt es jetzt darauf an, in den bitteren Apfel zu beißen und in irgendeine Lösung diplomatischer Art einwilligen zu müssen. Möglicherweise steht doch am Ende eine Teilung der Ukraine. Auf alle Fälle gibt es – und das kann auch gar nicht anders sein – keinen heißen Krieg zwischen Ost und West.“
Diese Einschätzung passt nahtlos zu dem, was Angela Merkel 2017 in einem „Hintergrund-Gespräch“ in Berlin sagte: „Man kann Putin nicht stoppen, man kann es ihm nur so schwer wie möglich machen, und das werde ich tun.“
Den langfristigen Hintergrund von Russland und Ukraine hat Reinhard Olt hier neulich ausführlich dargestellt. Auch Gerd Held machte auf die Besonderheit der Ukraine aufmerksam, indem er Henry Kissinger zitiert: „Der Westen ist weitgehend katholisch, der Osten russisch-orthodox. Der Westen spricht ukrainisch, der Osten größtenteils Russisch. Jeder Versuch eines Flügels, den anderen zu dominieren, wie es bisher der Fall war, würde zu Bürgerkrieg und Spaltung führen. Missbraucht man die Ukraine für eine Ost-West-Konfrontation, dann wäre für Jahrzehnte jede Chance vertan, Russland und den Westen (und besonders Russland und Europa) in ein kooperatives internationales System zusammenzubringen.“
Warum es sinnlos ist, von Völkerrecht und Selbstbestimmung der Völker zu sprechen, habe ich hier schon einmal begründet, weil seit 1918 jeder wissen kann, dass ‚Völkerrecht‘ nicht nur kein ‚Recht‘ ist, sondern ein Instrument des anfänglich von den USA dominierten ‚Völkerbundes‘ war, aus dem die von mehrheitlich autoritären Regierungen – China allen voran – dominierten United Nations (UN) wurden. In der Ukraine würde nach der ursprünglichen Logik des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Zweiteilung des Landes herauskommen. ‚Würde‘, da keine solche Abstimmung stattfinden wird, weil die alle Beteiligten von politischem Gewicht nicht wollen.
Wenn jetzt Putin die Ukraine in dieser oder jener Form „heimholt“, wie westliche Geheimdienste angeblich erwarten, fände nichts anderes statt als Gafrons Einschätzung des Westens, der USA voran und Deutschlands Rolle als quasi zweifacher Vasall hintendran: der von Washington und Moskau zugleich. Nämlich: Der Westen lässt Putin hinter dem Lärmvorhang freie Hand.
Was mich in der ganzen Debatte besonders stört, ist, wie alle von Russland und Ukraine reden. Mit Russland meinen sie, ohne es zu sagen oder auch nur zu merken, den zaristisch-sowjetischen Mix von Putins Machtapparat. Aber wo ist das andere Russland? Das der nach Gorbatschow erwachten Freunde von Recht und Freiheit, das begonnen hatte, sich in den Provinzen zu entfalten. In Russland gibt es nicht weniger Freunde von Recht und Freiheit als in Deutschland. Ganz sicher sind es in Russland nicht weniger als in der Ukraine, wo sie in der Kiewer Regierung ebenso wenig zu finden sind wie in der Moskauer. Zuhause würden Baerbock und Scholz den größeren Teil des Kiewer Establishments aus Angst vor politischer Kontaktschuld meiden. Gut und Böse eignet sich auch für Kiew und Moskau als Unterscheidung nicht. Aber darum geht es ja in der Außenpolitik nie, sondern um Interessen.
Doch der für mich zentrale Punkt in der ganzen Ost-West-Betrachtung kam von Anfang an schon in der Bonner Republik stets zu kurz, wenn er denn überhaupt zur Sprache kam. Gafron schreibt, was auch andere meinen, „Putin hat mit seinen Aktionen die NATO und damit das transatlantische Bündnis wieder zusammengeschweißt“. Darin steckt die alte Fehleinschätzung der Stimmung der Deutschen seit Beginn der zweiten Republik. Die Westorientierung war immer nur eine der qualifizierten Mehrheit in der Minderheit der politischen Klasse. Das Mehrheitsvolk will seit 1945 nichts anderes sein als eine große Schweiz – seit dem Hinzukommen der DDR erst recht.
Die politmedialen „Bekenntnisse“ zu den USA, zum „Westen“, zur NATO sind über die Classe Politique nie hinaus und in breitere Volksteile eingedrungen, ja in der politischen Klasse selbst war eine solche Westorientierung nie wirklich verankert, sondern blieb einer Minderheit vorbehalten. Dem Ende der Sowjetunion folgte kein Siegeszug der Westorientierung, sondern die alten Vorurteile gegen die Mischung von Antikapitalismus und Antiamerikanismus in den westeuropäischen Ländern lebten schnell wieder auf. Ihren Erfolg bei der Besetzung der Kommandostände der zweiten Republik verdanken die Grünroten genau dieser Fortsetzung des Antikapitalismus und Antiamerikanismus mit anderen Mitteln. Für’s Weltgeschehen ist’s belanglos, denn Berlin interessiert in Washington und Moskau wie in Paris und Brüssel nur das Geld der deutschen Steuerzahler. So lange es denn noch ausreichend sprudelt, dürfen Baerbock, Scholz und ihresgleichen ein bisschen mitspielen, bestimmen wollen sie ohnehin selber nichts.
In den wieder freien Ländern vom Baltikum bis in den Balkan ist die Anlehnung an den Westen, vor allem an die USA, eine Risikoversicherung gegen eine erneute Abhängigkeit von Moskau, aber keine politische Hinwendung an den Westen. Und Deutschland ist wie schon immer das unglückliche Weltkind in der Mitten. Nie war die Mehrheit seiner Bürger größer als heute, die nichts lieber sein möchte als eine größere Schweiz: politisch neutral, wirtschaftlich mit allen im Geschäft und ansonsten bei ihren alten und neuen Hobbys und Partys im In- und Ausland. Motto: Gebt uns unsere DM-Zeiten zurück.
Friedrich Schiller hat’s zwar anders gemeint, aber es passt trotzdem: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!“
Ich sage es nicht gern, aber ich beobachte und erlebe es seit bald sieben Jahrzehnten: Gelungen ist beides nicht.