Christian Lindners Rede im Landtag von NRW am 2. Februar hätte noch so glänzend in Form und Inhalt sein können, selbst in der Landes-Presse wäre die Aufmerksamkeit gering gewesen. Stattdessen geriet Lindners Replik auf den Zwischenruf des SPD-Abgeordneten Volker Münchow mit über einer Million Aufrufen erst zum Internethit und dann zogen alle klassischen Medien nach. Am 2. und 3. Februar stießen die User, Leser, Hörer und Seher überall und wiederholt auf den Videoclip aus dem Mitschnitt der Düsseldorfer Landtagssitzung. Die Reichweite nähert sich eineinhalb Millionen.
Hier die Fakten: FDP-Fraktionsvorsitzender Christian Lindner spricht im Düsseldorfer Landtag nach Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, SPD über den Rückstand der digitalen Entwicklung des Landes. Schon in den ersten 20 Minuten erregt seine scharfe, aber sachliche Kritik an der Regierung Kraft den Unmut der Abgeordneten von SPD und Grünen. Als Lindner sich in Minute 21 dem Stellenwert von Unternehmensgründungen und Gründergeist zuwendet, ruft Münchow hämisch dazwischen, „da haben Sie ja Erfahrung“. Hämisch, weil eine Internetfirma von Christian Lindner 2001 gescheitert ist.
Nur hatte die Ministerpräsidentin in ihrer Regierungserklärung eben gefordert, das „Scheitern von Pionieren nicht ein Leben lang biografisch als Stigma zu verwenden.“ Vor diesem Hintergrund legte der SPD-Mann Münchow den „Ball auf den Elfmeterpunkt“, wie Lindner ein paar Minuten später selbst formulierte. Lindner verwandelte die unbedachte und unprofessionelle Vorlage des eher unbekannten SPD- Fraktionsgeschäftsführers Münchow in den nächsten drei Minuten in einen ebenso spaßigen wie vernichtenden Exkurs. Der gipfelt in Lindners polemischem Satz, dass Münchow mit seinem „dämlichen Zwischenruf“ die Regierungserklärung von Ministerpräsidentin Kraft „zur Makulatur“ gemacht habe.
„Wutrede“? Keine Spur von Wut, wohl aber von unbändigem Spaß über ein so fabelhaftes Geschenk. Lindners Freude nahm von Minute zu Minute derart zu, dass er am Ende unter dem lauten Gelächter des Landtagsplenums selbst sagte: „So, das hat Spaß gemacht.“ Wonach er seine in der Sache scharfe Kritik an der Politik der rot-grünen Landesregierung 11 Minuten fortsetzte. Der Schlussapplaus fiel überdurchschnittlich lang und laut aus.
Der Vorgang ist ein Lehrstück unserer Medienwelt, der traditionellen Medien, der neuen und ihrer gegenseitigen Wirkungen. Einer schreibt „Wutrede“ und alle wiederholen es ungeprüft und ohne nachzudenken. Bis sich die ersten ein eigenes Bild machen, vergeht mehr als ein Tag. Süddeutsche und Handelsblatt etwa finden, dass Lindners Vorwurf an Münchow, vom Staat zu leben, nicht zutrifft, weil er auch mal in der freien Wirtschaft arbeitete. In den Leserkommentaren der alten Medien, bei Twitter und auf Facebook bekunden viele ihre Zuneigung und Abneigung für Lindner und die FDP, was zunehmend mit dem Anlass nichts mehr zu tun hat. Aber nach diesem Muster geht es halt bei den meisten Usern, Lesern, Hörern und Sehern immer überwiegend zu: Es ist ja auch ihr gutes Recht, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.
Aber wissen denn so viele Damen und Herren Journalisten nicht, dass dieser Massenhit im Internet zusammen mit seinen breiten Ausläufern in die althergebrachten Medien – gedruckt, gesendet und auf ihren Online-Ablegern auf das Aufmerksamkeits- und Sympathie-Konto Christian Lindners und der Magenta-markierten FDP geht? Und dass sie daran im Nachhinein nichts mehr ändern können? Das einzige, was solche Nachbetrachtungen, die den Normalbürger nicht die Bohne interessieren, bewirkt, ist, dass Lindners politisch hoch wirksame Spaßeinlage von noch mehr Menschen gesehen und gehört wird. Vor den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft entfaltet sich der hämische Zuruf des SPD-Mannes Münchow zur Wahlhilfe für eine FDP, die um ihre Sichtbarkeit kämpft.
Der Frankfurter Verleger Michael Ruiss setzte den Internethit Facebook-gemäß ins Bild. Er bedankte sich bei seinem Marine-Kameraden Münchow für dessen FDP-Hilfe mit den Worten: „Ein wirklich feiner Zug von meinem Kameraden Volker Münchow (SPD), dass er die in der Öffentlichkeit verschwundene FDP mit seinem Zwischenruf so unterstützt hat.“
Natürlich vergaß Ruiss auch nicht, in seinem launigen Statement einen Link zur FDP zu setzen.