In dieser Woche wird das britische Unterhaus gewählt. Kenner sagen, dass die Tories Schottland und Wales bereits aufgegeben haben. Nach der Wahl könnte es sich sowohl bei Labour wie bei Tories nicht mehr um britische, sondern nur noch englische Parteien handeln. Da scheint möglich, was das britische Mehrheitswahlrecht mit kurzen Unterbrechungen ausschloss, eine Koalitionsregierung: diesmal eine von Tories und Labour, eine wie in Berlin – nicht mehr ganz so – große Koalition.
Noch vor wenigen Jahrzehnten wählten 90 Prozent der Bundesdeutschen Union und SPD und gleich viele Briten Tories und Labour. Heute bringen die Volksparteien es zusammen diesseits und jenseits des Ärmelkanals jeweils bestenfalls auf 65 Prozent. Die schottischen Nationalisten (SNP) stehen zu Labour wie Die Linke zur SPD, mit dem Unterschied, dass die schottischen Linksnationalisten aus dem Vereinigten Königreich austreten wollen. Spiegelbildlich will die britische Unabhängigkeitspartei (UKIP), rechts von der konservativen Partei der Tories, die EU verlassen. Damit ist sie viel radikaler als die AfD, die rechts von der Merkel-Union noch nicht so genau weiß, wie sie sich letztlich zur EU verhalten will und auch sonst tief im Richtungsstreit steht.
Ministerpräsident David Cameron hat versprochen, die Beziehungen seines Landes zur EU neu zu verhandeln und über das Ergebnis Ende 2017 eine Volksabstimmung durchzuführen. Ob sein Versprechen genug auf die Wählerwaage bringt, um ihn erneut zum Premierminister zu machen, werden wir bald wissen. Etwas anderes hat er dem Volk auf der Insel und seinen Stämmen nicht anzubieten. Die Meinungsumfragen signalisieren ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Labour und Tories. Nigel Farage, Chef der UK Independence Party, hat die Beteiligung seiner Partei an einer Koalition ausgeschlossen. Die Tolerierung einer Minderheitenregierung macht er von einem Referendum über die EU-Mitgliedschaft noch in diesem Jahr abhängig. Am Ende bleibt Cameron vielleicht tatsächlich nur eine völlig unbritische Grand Coalition. Und wenn nicht Cameron, dann seinem Nachfolger. Im Absägen ihrer Anführer haben sich Tories und Labour in den letzten 20 Jahren ja überboten.
Die Grundfreiheiten der EU sind nicht mehr tabu
Kommt es zu Verhandlungen über die Mitgliedsbedingungen mit der EU, kann kein britischer Premier eine Volksabstimmung über den EU-Verbleib wagen, ohne die eigene Entscheidungshoheit bei der Einwanderung auf die Insel zurückgewonnen zu haben. Dann verdrängt der drohende Brexit endgültig den Grexit aus den Schlagzeilen der europäischen Presse. Im Herbst wählen Portugal, Polen, Dänemark und Spanien, 2017 Frankreich. Nach Syriza wirft Podemos die Frage nach einer neuen Linken und ihrem Einfluss in der EU auf. Mit UKIP und Le Pen stellt sich das gleiche Problem rechts – andere EU-Mitglieder einmal beiseite gelassen. Polen wählt am kommenden Sonntag seinen Präsidenten neu. Kann sich Andrzej Duda von der nationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gegen den amtierenden Bronisław Komorowski durchsetzen, wäre es mit dem Reformkurs im florierenden Polen wohl vorbei.
Das alles passiert, bevor Ende 2017 Bundestagswahlen anstehen. Entweder streiten CDU und CSU über den Migrationskomplex dann miteinander oder mit einer wieder wachsenden AfD oder beides. Aber auch Sozialdemokraten, Grüne und Linke werden sich der Debatte über die Grundfreiheiten der EU stellen müssen – eine FDP, die wieder auf den Plan treten kann, erst recht. Dass 2017 weiter alle Parteien dasselbe sagen und die Medien dasselbe schreiben wie heute, ist wenig wahrscheinlich.