Tichys Einblick
Parteienlackierte Entpolitisierung

Berufspolitik ist Laienverwaltung

Die Entfremdung von Volk und Mandarinen ist durch die Berufspolitik programmiert und nimmt mit jeder neuen Staatstätigkeit weiter zu. Systematisch und systemisch. Die Wasserköpfe wachsen und die politischen Ideen schrumpfen.

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Bernd Zeller

Verwaltungen und Bürokratien allgemein, staatlich wie privat, stellten Studien schon vor Jahrzehnten fest, beschäftigen sich tagaus, tagein um die 60 Prozent mit sich selbst. In diesem Anteil ist aber noch nicht enthalten, wie viel ihrer Zeit Verwaltungen im Verkehr mit anderen Verwaltungen ververwalten.

Als der Deutsche Bundestag im Bonner Provisorium der 1960er Jahre saß, teilten mehrere Abgeordnete Büros und wenige Sekretärinnen. Im Plenum wurden keine Manuskripte verlesen. Die Parlamentarier sprachen frei. „Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident“, war keine Floskel wie heute. Spannende Debatten mit gepflegtem Streit und manchmal auch nicht zimperlichen Sprüchen würzten Auseinandersetzungen, in denen es tatsächlich um Politik ging, um politische Richtungsentscheidungen.

Heute haben Abgeordnete Stäbe von Mitarbeitern im Parlament und daheim im Wahlkreis. Mit der ersten großen Koalition in Bonn hat das Wachstum der Stäbe begonnen, ist die Inflation der Zahl politischer Ämter galoppierend unterwegs: eine gigantische Jobmaschine. Weil mit dem Ausscheiden der kleinen FDP zu wenig Posten für die große SPD frei wurden, gebar die Bürokratiemaschine die Parlamentarischen Staatssekretäre (PStS). Diese Abgeordneten sollten ihre Minister vertreten, war die offizielle Begründung. Zu Beginn hatte jeder Minister einen Vertreter, inzwischen viele längst zwei, drei kamen auch schon vor; im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt heißen die PStSe Staatsminister. Auf einen Schlag verdoppelte sich das Bundeskabinett. Der eigentliche Kostenfaktor sind die Stäbe.

Ich diente Anfang der 1970er einem solchen Staatsminister als Leiter Büro Staatsminister. Hinter dem gewaltigen Titel verbargen sich außer mir eine Chefsekretärin, eine Sekretärin und ein Attaché – so die Dienstbezeichnung für einen Absolventen der AA-eigenen Ausbildung, bevor er Legationsrat wird – sowie ein Fahrer. Ein kleines und sehr effektives Team. Heute sind diese Stäbe – je nach Ressort – noch viel größer geworden. Sämtliche Ministerien in Bund und Ländern sind mehrfach kopflastig. Noch teurer als die Personal- und Sachkosten von immer mehr Häuptlingen ist der Verwaltungsleerlauf, den sie durch Binnenbeschäftigung immer weiter multiplizieren.

Je mehr Wasserköpfe, desto weniger Ideen

Der Grad des Politischen und seine Qualität hat mit diesem ungesunden Wachstum der Wasserköpfe umgekehrt proportional abgenommen. Die Medien verlangen aus jedem nichtigen Anlass politisches Handeln, die Parlamente machen hurtig Gesetze. Nein, sie heißen nur Gesetze und sind alle hastig und daher schlampig formulierte Verwaltungsvorschriften. Selbst die werden ja von den Vertretern der Parteien in den Parlamenten gar nicht in erster Linie gemacht, um etwas Ungeregeltes oder schlecht Geregeltes  zu ordnen oder besser zu regeln („Nachbesserungen“), sondern vor allem, damit die Medien zufrieden sind, dass die Politik ihrem Ruf gehorchte – bis zum nächsten Ruf nach einer neuen Aktion gleicher Güteklasse heute oder morgen.

Damit komme ich zum nachhaltig Ungesundesten an dieser Entwicklung, ihre negative Wirkung auf den Politikbetrieb und die Rekrutierung seines Nachwuchses. Seit den 1980ern spotte ich, diese Lücke zwischen BaföG und Rente kriegen wir auch noch geschlossen. Der Mitarbeiter des Abgeordneten (ob im Parlament oder im Wahlkreis) ist in der Regel Student. Die dienstliche Infrastruktur macht es dem Eleven leicht, vom Mitglied im Orts-, Kreis- und Bezirksvorstand usw. aufzusteigen. Parteimitglieder, die ihr Geld anders verdienen müssen, haben diesen Wettbewerbsvorsprung nicht. Der Fall, dass aus Mitarbeitern von Abgeordneten selbst Abgeordnete werden, ist Legion.

Für die Funktionäre von Gewerkschaften und Verbänden gilt Gleiches. In den Parteien wie dort arbeiten Leute, die vom wirklichen Leben, also dem der Steuerzahler, von deren Steuern Parteien, Parlamente und Staatsverwaltung wie die Apparate von Verbänden aller Art, bezuschussten NGOs und so weiter bezahlt werden, nie etwas mitbekommen haben und werden.

Berufspolitik ist Entfremdung

Die Entfremdung von Volk und Mandarinen ist solcherart programmiert und nimmt mit jeder neuen Staatstätigkeit weiter zu. Systematisch und systemisch. Über allem thront die Berufspolitik. Wer es trotzdem im Ausnahmefall schafft, sich in der Parteienwirklichkeit für neue politische Ideen, Konzepte und Initiativen Gehör zu verschaffen, kommt nicht weit. Er stößt auf die, denen ihre Karriere immer wichtiger ist, ja sein muss, denn sonst Ende der Karriere. Der Beruf Politik vertreibt Politik im tatsächlichen Sinne aus den Parteien, den Parlamenten, den Regierungen. Der Beruf Politik hat aus den Parlamenten Laienverwaltungen gemacht.

Mehr als einmal im Quartal steht keine politische Entscheidung an, die immer eine Richtungsentscheidung ist oder eben keine Politik. Mehr als je zwei Wochen im Quartal braucht es keine parlamentarischen Sitzungswochen, wenn Verwaltung dahin zurückkehrt, wohin sie gehört, in die Verwaltung. Darf Verwaltung das wieder, wird ihre Qualität schnell zunehmen. Darf Politik wieder Politik machen, wird die Qualität besser, weil dann politisch Engagierte in der Sache zum Zug kommen und nicht Berufssuchende. Parlamente, die vier mal im Jahr für je zwei Wochen tagen, können aus Zeitgenossen bestehen, die mitten im Leben des Volkes stehen. Für ihre Parlamentswochen können sie ihren Verdienstausfall erstattet bekommen. Das würde dann den Begriff Diäten rechtfertigen. Und die Mitarbeiterscharen der Berufspolitiker können die Nachfrage nach Qualifizierten auf dem Arbeitsmarkt befriedigen.

Ja, ich höre schon alle, die  Utopie sagen, wenn nicht Schlimmeres. Macht nichts, jede Reise beginnt mit einem einzigen Schritt. Und wer nicht weiß in welche Richtung, läuft weiter im Kreis. Es entmutigt mich auch gar nicht, dass ich diese Predigt etwa seit 30 Jahren erfolglos halte. Wer weiß, werte Leser, ob nicht die großen Krisen der Gegenwart ganz Vieles möglich machen werden, das die Mitläufer des Status Quos gebetsmühlenartig für unmöglich erklären.

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