1989/1990 machte ich diesen und jenen Oberpolitiker auf eine Chance aufmerksam: Bei der Vereinigung den realen Zustand der alten Bundesrepublik auf den Prüfstand stellen, von bürokratischem Ballast befreien, Bildung und Ausbildung mutig modernisieren, vom Einzeleingriff in die Wirtschaft zur Ordnungspolitik zurückzukehren und das Soziale so reformieren, dass es den Erwerbstätigen, Erwerbssuchenden und Pesionierten mehr dient als den damit befassten Organisationen und Behörden. Die einen verstanden überhaupt nicht, was ich meinte. Und die anderen sagten, dafür ist jetzt keine Zeit – später.
Die Republik im Stresstest
Die Millionen Zuwanderer, die nach Deutschland kommen, sind keine vorübergehende Erscheinung, sondern bleiben für Generationen – und ihre Themen auf der Agenda. Die entscheidenden Frage stellte Necla Kelek in der NZZ: „Was erwartet die Einwanderer in Deutschland? Verwahrung, Versorgung oder Integration?“
Wann, wenn nicht jetzt, ist die richtige Zeit für eine Generalrevision aller Bereiche und einen Masterplan zu ihrer umfassenden Erneuerung – für eine Agenda 2050. Die alten Defizite müssen zugleich mit den neuen Notwendigkeiten angepackt werden. Sonst addieren sich alte und neue Probleme negativ.
Die offenkundige Überforderung der Institutionen im Umgang mit dem Asylrecht sind nur ein Beispiel für die bürokratische Verkrustung des Landes, dem viel zu trägen Tempo des Verwaltungshandelns und einer Politik, die dieses Verwaltungshandeln moderiert statt es zu modernisieren. Alles was in diesem Land klappt, funktioniert trotz und unter Umgehung der Regeln und Vorschriften – nicht ihretwegen.
Die tief verankerte Kumpanei von Politik, Verwaltung, Gewerkschaften, Verbänden und Großindustrie wiegt weit schwerer als der offenkundige Betrug und Auftragsbetrug von Managern. Will mir ernsthaft jemand erzählen, die Gewerkschafter und Politiker im paritätisch mitbestimmten VW-Ausichtsrat hätten nichts gewusst oder wissen können, wenn sie denn nur wollten? Will uns jemand weismachen, Fachjournalisten wären nicht seit jeher voll im Bild gewesen? Natürlich wussten und wissen die Wissenschaftler der entsprechenden Disziplinen Bescheid und die Aktivisten in den NGOs. Wo Interessen sich treffen, setzt das kritische Engagement aus.
Das Dumme ist, wo die Moral leidet, kommt auch die Innovation unter die Räder, weil Protektion den Wettbewerb ausschaltet, jenes lebenswichtige Entdeckungsverfahren, dem Deutschland, Europa und der Westen allein jene Freiheit und jenen Wohlstand verdanken, der dem Westen – noch – Alleinstellung und Vorsprung in der Konkurrenz mit den autoritären Systemen in Asien sichert.
Deutschland darf nicht übersehen, dass sein derzeitiges Wirtschaftswachstum in erster Linie Effizienzsteigerungen aus Einsparungen (plus Null-Zinsen-Zeit) entspringt und viel zu wenig Innovationen. Die Zuwanderung ungelernter Arbeitskräfte ist eine gefährliche Versuchung für die Industrie, weiter viel mehr auf Kostensenkung zu setzen statt Erneuerung. Dass die Industrie auf Kostensenkung durch Arbeitsmarkt-Flexibilität bauen wird, unterstreicht das neue Wettbewerbs-Ranking des WEF.
Regelungsdickicht entmüllen
Wie viele Zuwanderer Kinder und junge Jugendliche sind, dazu gibt es widersprüchliche Meldungen. Aber selbst wenn es nicht ein gutes Drittel ist, jedenfalls haben sie deutlich bessere Integrationschancen als die Älteren – vorausgesetzt, die Bundesländer bringen es fertig, zusammen mit dem Bund, der Wirtschaft und gesellschaftlichen Einrichtungen eine große Ausbildungsinitiative zu wagen: Eine, die gleichzeitig die überfälligen Reformen in der Bildung und Ausbildung von Schülern und Lehrern bis hinein in die Hochschulen anpackt, die eine mut- und ideenlose Politik seit vierzig Jahren vor sich herschiebt. Darunter würde eine übergreifende Reform Deutschland einen neuen großen Schub an Qualität geben: duale Ausbildung durchgängig vom Schulkindergarten bis zum Hochschulstudium einschließlich. Die Digitalbrache Deutschland braucht jede Masse Klasse, um den Qualitätssprung zu Industrie 4.0 zu schaffen. Und die deutsche Gesellschaft braucht Lehrer, die Hinzugekommene in unsere politische Kultur führen.
Unter der Überschrift Umweltschutz ist ein Regelungsdickicht und Vorschriftendschungel entstanden, der unvoreingenommen durchforstet werden muss. Im Kampf zwischen den kommerziellen Interessen von privaten und kommunalen Entsorgern und denen der Zementindustrie, die von geringeren Auflagen für ihre Müllverbrennung profitiert, geht es nicht um die Umwelt. Bei der Mülltrennung wird ein Riesenaufwand betrieben, der bei näherer Betrachtung nicht annähend zu dem Grad an Recycling führt, der uns politisch vorgegaukelt wird: den Einsatz der braven deutschen Mülltrenner nicht eingerechnet, die ökonomischen und ökologischen Kosten der mehrfachen Hin- und Her-Transporte auch nicht. Die stofflich, wirtschaftlich und ökologisch zugleich beste Kreislauf-Bilanz hat in Wahrheit das Thermische Recycling. Das ökonomische Einsparungs-Potential einer konsequent entmüllten Müll-Politik ohne ökologische Nachteile, sondern auch noch mit ökologischem Gewinn ist enorm.
Das VW-Debakel ist auch ein Fingerzeig auf die korrumpierende Wirkung von politisch gewollten Umweltnormen, die in der harten Wirklichkeit nicht erreicht werden können und daher umgangen werden. Die horrenden Summen für die Exploration neuer Endlager für radioaktiven Müll sind in Wahrheit keine Ausgaben für die Umwelt, für eine bessere Endlagerung (die in Wahrheit eine Zwischenlagerung ist). Was in Deutschland im Verhältnis zu dem bereits vorhandenen Atommüll noch hinzukommt, ist geringfügig mehr und kann in Gorleben hinzugefügt werden. Die neuen Endlager dienen nur der innenpolitischen Verteilung des heißen Eisens, dass dabei das Risiko nicht kleiner, sondern größer wird, geht in einer Politik und Berichterstattung der Umwelt-Placebos unter. Die Forschung nach intelligenten Techniken zur tatsächlichen Verringerung der Strahlungszeiten überlässt die Placebo-Politik anderen Ländern – ihr ökologisches und ökonomisches Potential wird ignoriert.
Ludwig Erhard 2.0
Eine Versammlung der besten Köpfe könnte sich an einen Tisch setzen und – binnen Wochen, nicht Monaten – vorschlagen, wie Deutschland sich in der Asylkrise am berühmten eigenen Schopf aus seinem Reformstau zieht. Unabhängig davon, wie viele weiter nach Deutschland kommen und wie viele von ihnen auf Dauer bleiben, der deutsche Reformstau ist so oder so bedrohlich. Ludwig Erhard würde heute das Nötige tun und sich nicht beim Ideologischen aufhalten. Es braucht eine Agenda 2050, weiter wursteln wäre politisch hochgradig fahrlässig.
Entschlossene Schritte in der Außen- und Sicherheitspolitik im Nahen Osten und den anderen Krisenherden gehören ebenso dazu wie die nötigen Maßnahmen im Umgang mit den Millionen Zuwanderern in der EU und vor ihren Toren in der Türkei, im Libanon und in Afrika. Der Abschluss des Freihandelsabkommens der zwölf Pazifik-Anrainer (TPP) zeigt, dass Japan und andere ihre Interessen auch gegen die USA durchsetzen konnten. TTIP verhindern ist kein Ziel, sich durchsetzen ist eines. Alles hängt mit allem zusammen, aber Reformen zuhause – vor allem auch in der Sozial- und Gesundheits-Politik – entscheiden über Erfolg und Versagen der deutschen und europäischen Gesellschaften – mit sehr viel Zuwanderung und auch etwas weniger.
Eine breite öffentliche Debatte über eine solche Agenda 2050 wäre der konstruktive Wettbewerb von Parteien und gesellschaftlichen Organisationen. Ein solcher Streit um die besseren Konzepte brächte auch viele wieder an die Wahlurne, die ihr heute fernbleiben wollen. Wer sich um das Gemeinwohl verdient machen will, beteiligte sich am Wettstreit der Ideen, statt sein Erfolgserlebnis wie bisher im Niedermachen von Andersdenkenden zu suchen. Die Meinungsführer-Medien könnten sich darauf besinnen, ihren Beitrag zu leisten – übrigens auch im eigenen Interesse. Denn die Geduld der Leute ist nicht nur der Politik, sondern auch den Massenmedien gegenüber endlich. Die riesigen Chancen der großen Krise unserer Tage nicht zu nutzen, wäre unverantwortlich.