Tichys Einblick
Alles hat keine Zeit

68er – ein Mythos verfliegt

Die erste Bundesregierung, der Grüne und Schwarze angehören, mit wem auch immer als Drittem der Arithmetik wegen, ist das Staatsbegräbnis der 68er. Ihr Mythos verfliegt.

© Sean Gallup/Getty Images

Als der kurzzeitig Marathon-gestählt schlanke Joseph Fischer am Tisch des Bundeskabinetts Platz nahm, sagte er zum Edelproleten Gerhard Schröder,  „ich kann’s nicht glauben“. Das war der Zenith dessen, was aus dem systemsprengend gestarteten „Marsch durch die Institutionen“ geworden war. Er landete systemkonform im Establishment.

Nicht wenige werden mir da widersprechen und sagen, erst Winfried Kretschmann als Ministerpräsident von Baden-Württemberg sei dieser Zenith, und haben schon den nächsten im Blick: Bundespräsident Kretschmann als Quartiermacher für die erste schwarz-grüne Bundesregierung. Ob es zu beidem kommt, ist weniger interessant als die Gewissheit, dass beidem sehr viel positive Berichterstattung und zustimmende Kommentierung des größeren Teils der Meinungsmedien sicher wäre.

Kretschmann, der im Namen der Grünen auf der Woge des wässrigen Tsunamis in Fukushima und des politischen Tsunamis, genannt Energiewende, in die Villa Reitzenstein, den Amtssitz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten in Stuttgart einzog, markiert nicht den nächsten Etappensieg derer, die sich selbst als bundesrepublikanische Linke verstehen. Vielmehr markiert der Erfolg des Außenseiters innerhalb der Grünen die nächste Stufe des Verschwindens dieser Linken. Links bedeutete politisch einmal fortschrittlich bis revolutionär, im Gegensatz zu Rechts als konservativ bis reaktionär. Das war einmal.

Links war einmal

Heute konkurrieren alle Parteien um die bessere Version von kleinbürgerlich-konservativ. Nichts anderes ist der Versuch, den deutschen Wohlstand (zusammen mit dem in den Niederlanden, Österreich, Schweiz und den skandinavischen Ländern) ungeachtet aller globalen Veränderungen als sozialdemokratische Festung zu halten. CDU, CSU, Grüne, SPD und Linkspartei konkurrieren nur mehr im Detail um noch flächendeckendere Interventionen im Wirtschaftsablauf. Für die Tatsache, dass sich das Wirtschaftsgeschehen auf die Dauer nicht ungestraft beliebig mit bürokratischen Regulierungen befrachten lässt, ist jedes Bewusstsein abhanden gekommen. Am Punkt X wirft die Wirtschaft die Erträge nicht mehr aus, die zur Finanzierung eines immer engmaschigeren Sozialsystems notwendig sind. Niemand kämpft mehr gegen oder für Marktwirtschaft. Alle schrauben an ein und demselben Staatskapitalismus. Alle berufen sich auf Ludwig Erhards „Soziale Marktwirtschaft“, aber die Mehrheit glaubt, das Soziale ginge ohne oder (nur) gegen die Marktwirtschaft.

Dabei ist den Sozialdemokraten und Grünen in allen Parteien nicht einmal in Ansätzen klar, dass niemand dem Wachstumsfetisch mehr verfallen ist als sie. Wie alle Politiker – von exotischen Ausnahmen abgesehen, auf die niemand hört – durchschauen sie nicht, was in der Finanzwelt mit der permanent laufenden Gelddruckerei angerichtet wird: eine Geldblase, durch keine realen Werte gedeckt, nur noch eine Wette auf zukünftiges Wachstum. Mit dem Geschwurbel vom Neoliberalismus reden sie sich darüber hinweg und beten ihr politisches Gewissen gesund.

Es waren ihr Schröder und ihr Fischer, die mit der Agenda 2010 den Offenbarungseid des Wohlfahrtsstaats auf töneren Füßen zwei Jahrzehnte hinausgeschoben haben. Von den wirtschaftlichen Wirkungen der Öffnung des Arbeitsmarktes für billigere Arbeit zehrt das deutsche Wirtschaftswachstum – noch. Die freudige, wenn auch voreilige Hoffnung der Konzernmanager auf noch mehr billige Arbeit durch Einwanderung traf sich nicht zufällig mit der genauso unkritischen Erwartung romantischer Politiker vom Zuzug Hochqualifizierter und kulturell Bereichernder (ja, die gibt es, aber als Minderheit, ihre Mehrheit zieht nach Nordamerika, England und Australien).

Alle Parteien zusammen haben die Wirtschaft ordnungspolitisch im Sozialstaat eingemauert, den sie immer noch weiter ausbauen und verregulieren. Mit der gleichzeitigen Einbeziehung von Hunderttausenden oder Millionen von neuen Kunden des Sozialstaats bereiten sie nichtsahnend seine Sprengung vor. Aus seinen Trümmern werden die Konzerne kaltlächelnd die für sie Guten ins Töpfchen und für sie Schlechten ins Kröpfchen sortieren. Wo ihnen die nationale Politik nicht gehorcht, schalten sie wie immer ihre Agentur ein: die EU. Ist den grünen Sozialdemokraten aller Parteien nicht klar, dass für die EU die Interessen der Konzerne immer Vorrang haben?

Zum Mainstream West mutiert

Den 68ern, die wie die frühen Grünen mit dem Anspruch antraten, es radikal anders zu machen als die damals etablierten Parteien, ergeht es wie den Liberalen zu Zeiten des späten Kaiserreichs und in der ersten Republik. In wesentlichen Teilen wurden ihre politischen Vorstellungen zunehmend von Sozialdemokraten und Konservativen übernommen. Das ging deshalb so leicht, weil die Liberalen ihren essentiellen Ziele selbst die Ecken und Kanten nahmen, selbst so rundschliffen, dass andere sie in ihr Repertoire aufnehmen konnten. Bismarck machte aus liberalen Rechtsreformern nationalliberale Staatsgläubige (war lupenrein zu besichtigen in der LDPD der DDR, aus der etliche FDP-Granden kamen).

Die Einschleifmühle des bundesdeutschen Parteiensystems (Parteiengesetz, Parteienfinanzierung, Fraktionsfinanzierung, Stiftungsfinanzierung, Abgeordenetenbezahlung und viele andere Berufspolitikerprivilegierungen) machte den „Marsch durch die Instutionen“ zur Ansiedlung in diesen Institutionen. Die Altetablierten der Bonner Republik haben den Staat und die Gesellschaft allerdings nie in dem schamlosen Ausmaß in Besitz genommen wie die Neuetablierten der Berliner Republik. Ungewollter Nebeneffekt der Gier nach Geld, Titeln und Karossen: Dabei sind die Alt-68er selbst, noch mehr aber ihre Erben, selbst Establishment geworden. Sie sind direkt von der Bastille in Versailles eingezogen. Sie waren gegen den Obrigkeitsstaat ausgezogen und sind selbst Obrigkeit geworden – und zwar eine, die viel weniger Widerspruch duldet als die alte. Mit dem, was man über Mülltrennung, Klimawandel, Energiewende, CO2-frei und die anderen Versatzstücke der neuen Zivilreligion zu denken hat, waren die Spät-68er sehr erfolgreich. Aber alle Parteien wurden grün und sozialdemokratisch – wie einst alle staatsfromm. Und jetzt wird gnadenlos exekutiert und durchregiert – auch wenn der Unsinn jedes Maß sprengt. Das hat aber neben der Verspießerung in Ämtern und Würden eine sehr grundlegende Folge:

Wo alle „grün“ sind, braucht es keine Grünen mehr. Wo alle „sozial“ sind, braucht es keine Sozialdemokraten mehr. Die 68er haben sich nicht zu Tode gesiegt, wie manche ihrer Kritiker sagen, sie haben sich so sehr etabliert, dass sie gar nicht mehr auffallen. Mit der „sozialliberalen“ Koalition begann ihre Verbürgerlichung. Der Anschluss der DDR (eine Vereinigung kann man das seriöserweise nicht nennen) beschleunigte die Mutation der 68er. Mutationen sind in der Natur unumkehrbar und vererblich: offensichtlich auch politische Mutationen.

Als die dann schon älteren 68er zunächst gegen den Anschluss der DDR waren, hatte sie den richtigen Riecher. Die Angeschlossenen haben nämlich in ihrer Mehrheit keine Mutation von Ossi zu Wessi vollzogen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die etablierten 68er und ihre Freunde in den Medien das heute erwarten, ist ebenso naiv wie anmaßend. Es wächst zusammen, was zusammen gehört – was nicht zusammen passt – nicht.

Was die Spät-68er eroberten, ist eine Ruine: die rauchenden Trümmer der einstigen Sozialen Marktwirtschaft, liberal und erfolgreich, wie sie nicht mehr ist. Die erste Bundesregierung, der Grüne und Schwarze angehören, mit wem auch immer als Drittem der Arithmetik wegen, wird das politische Staatsbegräbnis der 68er. Was von ihrem Mythos übrig blieb, verfliegt.

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