Streichen Sie den kommenden Donnerstag vorsorglich dick in Ihrem Kalender an. An diesem Tag geht die EZB-Geldshow in die nächste Runde, Überraschungseffekte inbegriffen. Mario Draghi, unumschränkter Herrscher über Hunderte Milliarden Euro, hat mit Andeutungen bereits im Vorfeld hohe Erwartungen der Finanzwelt geschürt. Würde er sie enttäuschen, indem er den ohnehin schon massiven Anleihenkauf (Quantitative Easing, kurz QE) nur geringfügig oder etwa gar nicht ausweitet, käme es zu erheblichen Turbulenzen an den Börsen. Das kann nicht in seinem Sinn sein. Folglich wird er QE kräftig ausdehnen. Womit sich die Frage stellt: wie?
Draghi hat mehrere Optionen. Bekanntlich lässt er seit März dieses Jahres Monat für Monat Anleihen für jeweils 60 Milliarden Euro kaufen, zunächst begrenzt bis September 2016. Nun könnte er die Frist einfach verlängern und dies am Donnerstag ankündigen. Die Verlängerung um nur ein Jahr wäre für Börsianer eher enttäuschend, um zwei, drei oder mehr Jahre unnötig starr. Warum also nicht gleich auf unbestimmte Zeit? Zusätzlich versehen mit Bemerkungen wie: Bis das Inflationsziel von etwas unter 2 Prozent näher rückt. Oder: Bis sich QE aus konjunkturellen Gründen als nicht mehr notwendig erweist.
Alles ist möglich
Als weitere Variante kommt die Erhöhung von monatlich 60 auf beispielsweise 80 oder 100 Milliarden Euro infrage. Auch die QE-Ausdehnung auf Anleihen von Bundesländern, Kommunen und sonstigen Schuldnern ist denkbar, außerdem die Aufstockung von noch mehr Pfandbriefen und Asset Backed Securities (das Teufelszeug, das mitverantwortlich für die Finanzkrise war). Ein Witzbold hat sogar vorgeschlagen, Ramschanleihen mit High Yield (hohe Rendite, aber Ausfallrisiko) ins Kaufprogramm aufzunehmen. Begründung: In den USA hätten diese Anleihen bereits ein Volumen von 1,5 Billionen (amerikanisch: trillions) Dollar erreicht; das sei doch ein Beweis dafür, dass es da gar nicht so ramschig zugehe. Und: Solche Anleihen würden wenigstens positive Renditen abwerfen, was etwa bei Bundesanleihen ja längst nicht mehr der Fall ist.
In Anbetracht solcher Möglichkeiten und Versuchungen ist es schwierig, bereits im Vorfeld Draghis Favoriten auszumachen. Zumal er sich immer wieder Kritik aus den eigenen Reihen anhören muss. War es monatelang vor allem EZB-Ratsmitglied Jens Weidmann, der den drohenden Zeigefinger hob, so preschte zuletzt EZB-Direktorin Sabine Lautenschläger mit bitterer Kritik vor, die in dem Satz gipfelte: „Ich sehe derzeit keinen Grund für weitere geldpolitische Maßnahmen.“
Schlimme Folgen und ein Teufelskreis
Die absehbaren Folgen der extrem lockeren EZB-Geldpolitik sind derart gravierend, dass man sie sich nicht oft genug vor Augen führen kann: Staaten wie Frankreich oder Italien, Griechenland so wie so, verschulden sich lieber immer höher, statt durchgreifende Reformen in Gang zu setzen. Sparer bei Banken und Sparkassen sowie Kunden der Lebensversicherer werden durch Nullzinsen regelrecht enteignet. Die vom Zinsgeschäft besonders abhängigen Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken geraten wegen sinkender Margen in die Zwickmühle.
Immobilienkäufer werden als potenzielle Vermieter durch niedrige Zinsen dazu verführt, sich hoch zu verschulden. Derweil ist Justizminister Heiko Maas dabei, ein Anti-Vermieter-Gesetz ins Rennen um die Gunst der Mieter zu schicken, deren Zahl größer als die der Vermieter und deshalb aus politischer Sicht als Wahlvolk viel wertvoller ist.
Die Folgen der Nullzinspolitik für Aktien werden derzeit kontrovers diskutiert. Das schlägt sich an den seit Monaten hin und her schwankenden Kursen nieder. Dabei tritt ein besonders wichtiger Aspekt leider in den Hintergrund: Pensionsrückstellungen, die Teil des Fremdkapitals von Unternehmen sind, steigen mit sinkenden Zinsen. Folglich sinkt der Anteil des Eigenkapitals in den Unternehmensbilanzen. Das führt zu schlechteren Noten vonseiten der Ratingagenturen, woraufhin sich die Beschaffung von Fremdkapital verteuert – ein Teufelskreis. Diese Entwicklung fällt in der Diskussion über die vermeintliche Alternativlosigkeit von Aktien als Geldanlage weitgehend unter den Tisch. Umso stärker dürften die Kurse nach unten ausschlagen, sobald Pensionsrückstellungen unter Börsianern zu einem diskussionswürdigen Thema werden.
Zum Schluss ein Überraschungscoup
Draghi betont immer wieder, seine Geldpolitik im Rahmen des EZB-Mandats zu vollstrecken – eines Mandats, das er willkürlich auf die überhaupt nicht zum Repertoire der EZB gehörende Wechselkurspolitik ausgedehnt hat. Willkürlich ist auch das aus der Luft gegriffene Anstreben eines Leitzinses etwas unter 2 Prozent. Dafür muss die angeblich drohende Deflation herhalten. Dass wir es nicht mit ihr, sondern mit einer erst rückläufigen, zuletzt stagnierenden und bald wahrscheinlich leicht steigenden Inflation zu tun haben, findet höchstens in Kreisen von Wissenschaftlern und Bankvolkswirten Beachtung.
Da alle Welt überschuldet ist, müssten frei nach volkswirtschaftlicher Lehre Schuldenschnitte her. Doch daran traut sich niemand, im Gegenteil, die Schulden wachsen unaufhörlich: die der Staaten, der Unternehmen, speziell auch der Banken, die vorgeben, Unternehmen zu sein, sich aber allzu oft als Spielsalons erweisen, nicht zu vergessen die Schulden der unzähligen armen Schlucker, die sich für 5 Prozent oder noch mehr an Sollzinsen hoffnungslos verschulden und am Ende in die Privatinsolvenz schlittern.
Der klassische Antipode eines besonders unter Politikern immer und überall unpopulären Schuldenschnitts ist die finanzielle Repression. Sie bedeutet im übertragenen Sinn: Auf Teufel komm raus Geld drucken, um schließlich mit dem auf diese Weise entwerteten Geld die Schulden zurückzuzahlen. Dazu bedarf es des Zusammenspiels von Staaten und Notenbanken. Die Staaten der Eurozone lassen Draghi frei gewähren. Also wird er sein Mandat, wie eingangs beschrieben, nach Gusto ausdehnen. Machen Sie sich auf einen Überraschungscoup am 3. Dezember gefasst!
P.S. Am Sonntag besuchte ich den Nachbarschaftstag der EZB, eine Veranstaltung für die Bewohner rund um deren Gebäude. Schon direkt neben dem Eingang stieß ich auf ein Draghi-Porträt, neben dem sich sinnigerweise drei Ständer mit aufgeblasenen Luftballons und der Aufschrift „European Central Bank“ befanden. Unter dem Porträt war etwas zu den Zielen der EZB zu lesen, etwa „Förderung der Stabilität des Finanzsystems“ und „Beaufsichtigung des Banksektors“. In einer ausgelegten Broschüre hieß es ähnlich, „das vorrangige Ziel des Eurosystems“ sei „die Gewährleistung von Preisstabilität“. Es wird interessant sein, am kommenden Donnerstag zu erfahren, wie Draghi mit solchen Vorgaben umzugehen gedenkt.