Duisburg 1996: „Ludger, ich hab’ da so eine Band entdeckt, musste dir unbedingt anhören!“ – „Aha. Woher kommen die?“ – „Aus Kanada, aber die klingen voll nach Seattle, also Nirvana, Soundgarden, weißt du?“ – „Yeah! Kannst du mir die CD brennen?“ – „Ui, mein Bruder hat so’n Laufwerk auf der Arbeit, der könnte das, aber es ist schwierig. Wie wär’s, wenn ich dir eine Kassette aufnehme?“ – „Gern, ist sogar besser, dann kann ich das im Auto hören.“
Besagte Band packte mich in besagtem Auto (ein Golf II mit Dreiecksfenstern) gleich mit dem Auftaktsong, es war Liebe auf den ersten Riff, quasi ein akustischer Drogenersatz für alle, die keine Drogen nehmen. Schnell war die Kassette ins Leiern gebracht, drum fitschte ich dereinst in Duisburg-Neudorf zum Plattenhändler meines Vertrauens „Hondo’s Heaven“, um dort (ich gebe zu: fast prahlerisch) bei Inhaber Andreas B. persönlich meine CD-Bestellung aufzugeben. „Wie heißt das Ding, Ludger?“ – „Curb.“ – „Und wie heißt die Band?“ – „Nickelback.“ – „Ok, du hast Glück, das wird schnell gehen mit der Lieferung, in vier bis sechs Wochen müsste die CD schon hier sein.“ – „Echt? Mensch Andreas, das ist ja wirklich super Service. Hier sind deine 30 Mark!“
Nickelback, ein klassischer Insidertipp, und das werden sie wohl immer bleiben. Dachte ich. Zu speziell ihre Musik, zu viel Grunge. Ich täuschte mich. Das Nach-Nachfolgealbum „Silver side up“ schoss zur Jahrtausendwende durch alle Decken, MTV & Co. ließen „How you remind me“ wie Feuerwerkskörper rauf und runter knallen, und es begann eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen mit Millionenverkäufen und beständig neuen Kapiteln – bis heute. Aber: Es begann ebenso ein künstlerischer Kommerzialisierungsprozess, der Entfremdung mit sich brachte; Fans der ersten Stunde fühlten sich alsbald betrogen, denn die Zugeständnisse der Band an den Mainstream waren irgendwann nicht nur unüberhörbar, sondern auch prägend. Ein paar Gitarrenklänge zwischendrin blieben als unaufrichtig wirkende Alibihärte unter effektgemästeten Synthieklängen. Da hatten uns Nickelback in Trance gesungen Mitte der 90er, und nun reissen sie uns aus selbiger wieder raus mit einem Sound, so berechenbar, penetrant und eintönig wie das Steh-auf-Surren eines Weckers auf dem Nachttisch. STOP, aufhören!
„The long road“
Viele Jahre danach: Bei einer späten Heimfahrt im Auto (inzwischen ein stattlicher Audi mit Kindersitz) lasse ich den Radio-Suchlauf laufen und dudele mich durch die Meterware. Auf SWR3 wird es plötzlich laut, und ich bleibe hängen. Wow! Die Stimme kenn’ ich doch. „Believe it or not, liebe Hörer, das waren Nickelback!“ Wie bitte? Ein schneidiger Redakteur hatte es geschafft, eine Nicht-Singleauskopplung (noch dazu aus einem nicht brandaktuellen Album) irgendwie ins Programm zu schlawinern. Ich wäre glatt am nächsten Morgen zu „Hondo’s Heaven“ gelatscht, hätte es den Laden damals noch gegeben. Stattdessen wählte ich den modern werdenden Weg, steuerte iTunes an, sah die Fülle der derweil lancierten Werke und zog mir das Album „The long road“. Schnell war bei mir der Nickel gefallen: Na klar, ganz offenbar steht der ganze Hitradiokram nicht stellvertretend für das Gesamtwerk der Band, sondern dient lediglich dazu, sie im ständigen Das-Beste-aus-Mix irgendwie präsent zu halten. Jungs, wie konnte ich nur so ohrenblind sein? I guess I should have listened! Wenn ihr mal in der Gegend seid, komme ich euch besuchen. See you at the show. Someday. Versprochen!
Nickelback singen im Radio brav ihre brennenden Liebeslieder geführt von Standardakkorden und Dur-Klängen, doch ich als Fan bin überzeugt: Hinter der blumigen Frontware lauern Revolutionäre! Früher hätte man gesagt: „Hör’ dir mal die B-Seite an, die ist viel besser als die A-Seite.“ Was mit „When we stand together“ vor Jahren noch als schwuppihafte Mitgrölnummer harmlos begann, wurde zuletzt in „Edge of a revolution“ zu einem zumindest bemerkenswerten Frontalangriff auf die Strippenzieher der Gegenwart. Inzwischen sind Nickelback noch ein paar Schritte weiter gegangen auf ihrem langen Weg:
Letzten Mittwoch im Mönchengladbacher Hockeypark eröffnet Sänger Chad Kroger das einzige Open-Air-Konzert auf deutschem Boden mit (Richtung Sonne zeigend) einem Dank an den lieben Gott. „Welchen Gott meinst du?“, fragt Kumpane Ryan Peake schnippisch. „Ich meine den, der für’s Wetter zuständig ist“, erwidert Chad. Nickelback machen sofort klar, was sie von ihrer Vorband ‚Seether‘ und zahlreichen anderen Post-Grunge-Vertretern signifikant unterscheidet: Die mögen zwar teils ähnliche Klänge anstimmen, doch letztlich sind das alles nur schlecht frisierte Taugenichtse ohne Breitenwirkung und ohne Aussicht auf ein Verstandenwerden. Was singt der Seether-Typ da in seinen Bart? Broke? Broken? Isser pleite oder hat er Liebeskummer? Ach, ist mir auch egal … Nickelback hingegen sind klar. Und anschaulich. Sie werden oft verachtet ob ihrer Makellosigkeit, weil sie angeblich angepasst sind, und als „Beleg“ werden gebügelte Jeanshemden und gebleichte Zähne angeführt – doch was, wenn der Vorwurf der Massenkompatibilität gar nicht stimmt? Wenn sie sich nicht den Massen anbiedern, sondern diese bloß erreichen wollen? Für offene, unverhohlene Systemkritik in einer ansonsten schwer vermittelbaren Härte? Der tourtitelgebende Song „Feed the machine“ jedenfalls ist randvoll mit aggressiven Sinnbildern (die sich schwer in unser Sprachempfinden übersetzen lassen, drum lasse ich’s besser), es geht um Rattenfänger, um Lügen, die an Haken kleben, um verdrehte Wahrheiten, um verbrannte Erde, abgenagte Knochen, zermalmte Mäuse, um’s Einreihen, um’s Fressehalten, um Schuldgefühle, und es geht um diejenigen, die den ganzen „Apparat“ unfreiwillig am Laufen halten, statt langsam mal über das Betätigen der richtigen Hebel nachzudenken: Es geht um uns – rrrrumms!
„Edge of a revolution“
Sie hätten locker nochmals 1 1/2 Stunden draufsetzen können an diesem wunderbaren Sommerabend in Mönchengladbach, denn etliche Gassenhauer waren gar nicht dabei gewesen. Zwei junge (ähem) „Damen“ durften zwischendurch mal auf die Bühne und „Rockstar“ singen. Waren die schon geboren, als ich bei „Hondo’s Heaven“ damals „Curb“ bestellt hatte? Ich glaube nicht. Ryan Peake, der aufreizend hübsche Gitarrenmann neben Chad Kroeger, blickt mit Abschiedslächeln in die Menge und ergreift ein letztes Mal heute das Wort: „Leute, wenn ihr immer so zahlreich kommt, werden auch wir immer wieder zurückkehren und spielen. Deal?“ Deal! Ich werde euch treu sein. Für immer! Ja, ich gebe zu, es gab eine Zeit, da war ich sauer auf euch, wegen „If today was your last day“ und so. Aber das sind ja nur Lockmittel, ich weiß das jetzt, und es ist ok. Ich werde euch nicht mehr verlassen! Und: Won’t feed the mashine. Standing on the edge of a revolution. YEAH! Eure zahlreichen Plektrons, die ihr heute Abend ins Publikum geworfen habt, sind alle an mir vorbei geflogen, aber das macht nichts, sie sind bei den kleinen Kreisch-Mädchen in der heimischen Vitrine sicher bestens aufgehoben. Macht’s gut, ihr dürft nun weiterziehen. Tschüss! Licht an. Umdrehen. Momentchen, die kommen ja noch mal zurück. Ein Drumstick? Ey, den wirft er doch jetzt nicht ins Publikum – oder doch?!
Unser Ludger führt seit Kurzem auch einen Vlog (= Videoblog) auf youtube. Da gibt’s aktuelle Themen in Stand-Up-Aufbereitung, die es aufgrund begrenzter Haltbarkeit nicht in sein Solo-Programm schaffen, zuletzt eine wuchtige Watschen am Pfingstwochenende in Richtung „Christian Lindner und Karl Marx“
Nickelback in Mönchengladbach gibt’s HIER zu sehen (Fotos und Video verdanken wir dem selbstlosen Draufhalten von Ludgers Gefährtin)