Mir gefiel sie auf den ersten Blick: Welch ein hinreißendes Lächeln! Hätte ich diese junge Frau im Fenster einer vorbei fahrenden Straßenbahn gesehen, wäre sie mir bestimmt auf ewig in wohliger Erinnerung geblieben – stattdessen sah ich sie letzte Woche auf dem Frontblatt der Neuen Ruhr Zeitung (NRZ), links oben. Nebendran ihr Name. Oh nein, das ist … Bitte nicht.
Der Name: Geißendörfer. Ihr Vater: „Mr. Lindenstraße“. Sie: Seit Jahren leitend für die Lindenstraße tätig (inzwischen als Produzentin). Was ich von der Serie halte? Ganz einfach: Man liebt sie, oder man hasst sie – ich liebe sie nicht. Hana Geißendörfer wirkt im Bild und im Interview sympathisch, warmherzig, offen, fast moderat. Ihrem Vater Hans W. Geißendörfer durfte ich in meiner langen Zeit als WDR-Mitarbeiter ein Mal „Guten Tag“ sagen und empfand ihn als das genaue Gegenteil. Ich spüre grad: Dass ich hiermit meine Geringschätzung dem Schöpfer der Lindenstraße gegenüber nicht mit Beleidigungen zum Ausdruck bringe, sondern durch Komplimente für seine Tochter, schenkt mir ein befriedigend- perfides rhetorisches Grundgefühl.
Bald läuft die letzte Folge der Lindenstraße, endlich! Die Themenwahl, die Dialoge, alles aus der Melkmaschine im Geißendorf schmeckte mit den Jahren immer mehr nach verschimmelter 68er-Prosa, an der sogar Erich Honecker sich verschlucken würde. Als die Nachricht publik wurde vom zwangsweisen Ende der Serie per ARD-Beschluss, entblödete sich ihr Säulenheiliger Hans W. Geißendörfer nicht, ein Statement der besonders bornierten Art in Richtung WDR-Häuptling Jörg Schönenborn zu zwitschern: Dieser habe ihn angerufen und persönlich über das Aus informiert, aber (Achtung!) „nach 33 Jahren hätten wir doch eine schriftliche Absage verdient, mit einer Unterschrift und handschriftlich. Ein Telefonat finde ich ohne jeden Anstand. (…) Er soll sich gefälligst dahinhocken und mir schreiben.“ Ja sicher, Herr Geißendörfer, am besten noch auf Büttenpapier und mit Drachenblutsiegel! Ich traute beim Lesen meinen Augen nicht und dachte: Was für ein Arroganzbatzen! Hätte er tatsächlich einen solchen Brief bekommen, dann wäre er mit Sicherheit die umgekehrt beleidigte Leberwurst gewesen und hätte sich über das Ausbleiben eines persönlichen Anrufs empört. Bescheuert! Doch das war noch lang nicht alles:
Im Erzürn-Verbund mit Mutter Beimer wurden die härtesten Wortbrigaden an die Front geschickt.
Die Lindenstraße stehe für „Anspruch“, „Kult“, für „politisches und soziales Engagement, Meinungsfreiheit, Demokratie, gleiche Rechte für alle und Integration“. Sagt mal, Leute, geht’s auch ’ne Nummer kleiner?! (Wer unbedingt möchte: alles u.a. nachlesbar auf dwdl.de) Eine Fernsehserie endet, das macht natürlich sehr, sehr (sehr!) traurig, aber muss man damit gleich das Ende aller Werte ausrufen? Ja, muss man – als Bewohner der Lindenstraße, denn deren Welt ist eine Scheibe, und jede Scheibe ist begrenzt. Fernsehen eben. Eine branchen- und milieutypische, maßlose Selbstüberschätzung, für die sich kein Klischee-Comiczeichner ein passenderes Repräsentationsgesicht hätte erdenken können, als dasjenige von Hans W. Geißendörfer. Und die hübsche Hana? In der NRZ vom 8.8.2019 wird Sie wie folgt vorgestellt:
„Hana Geißendörfer wurde 1984 in London geboren, sie wuchs dort auf und auf der griechischen Insel Rhodos. Nach einem Regiestudium in Paris arbeitete sie als Regisseurin und Produktionsleiterin. Vor ein paar Jahren stieg sie zunächst als Regieassistentin und Drehbuchautorin bei der Lindenstraße ein.“
Gewiss werden Vater und Tochter jedem versichern, dass diese Karriere kein Resultat von Familienklüngel war, sondern dass Hana sich ganz normal in einem fairen Wettbewerb habe durchsetzen müssen und dabei Vaters großen Namen eher als Belastung zu tragen hatte. Na klar. Und der FC Köln wird Meister!
Kein Zweifel (da mag sie noch so nett rüberkommen): Hana Geißendörfer ist wie ihr Vater LINKS OBEN. Beide gehören zu der breiten Kaste der in Medien, Kunst und Politik tätigen „Anywheres“ – gut situierte Bourgeois-Liberale, deren Privileg es ist, meist ohne Ortsgebundenheit eine (mehr oder minder) kreative Arbeit ausüben zu können, für die es obendrein auch noch breite Anerkennung gibt und einen immer vollen Kühlschrank. Als ich die NRZ nebst einem Stapel Aldi-Nord-Prospekte in Essen-Rüttenscheid zum Altpapier brachte, stellte ich mir Hana Geißendörfer vor, wie sie bei alten Freunden in London sitzend die „Tagesthemen“ in der ARD-Mediathek anschaut, um darauf aufbauend ein Lindenstraßen- Skript zu ersinnen voll mit brisanten deutschen Sozialthemen … und zwei Tage später steht in der Antwort-Mail des Kölner Abnickers: „Danke Hana, hautnah dran am Leben, wie immer. Cheers.“
Die Begriffe „Anywheres“ und „Somewheres“ stammen aus einer jungen Veröffentlichung des Britischen Autors David Goodhart und sind bemerkenswert; sie stehen – einer deutschen Übersetzung trotzend – für heimatlose Weltbürger (die „Anywheres“) und ihr gesellschaftliches Spannungsverhältnis mit erdverwachsenen Normalbürgern (den „Somewheres“), denen sie sich jovial überlegen fühlen. (Buchtitel: „The Road to Somewhere“.) Für mich eine hochspannende, zeitgemäße Weiterführung des bereits vor 100 Jahren bei Oswald Spengler im „Untergang“ ausführlich angeführten Konflikts zwischen Städtern und Bauern. Ich las von Herrn Goodhart zuerst im Rotary-Magazin, das mir allmonatlich zuflattert, später online in der ZEIT, und noch später zitierte und analysierte ihn auch der böse Alexander Gauland in einem bösen Vortrag im Rittergut des Bösen bei Götz Kubitschek, dem bösesten Bösewicht überhaupt. (Gaulands Vortrag gibt’s auf youtube. Noch. Sie werden ihn schon finden. Bitte erzählen Sie keinem Kabarett- Veranstalter, dass Sie den Tipp von mir haben!) Zurück zur Lindenstraße:
Genau das, was die Serie am meisten sein will, ist sie am wenigsten: authentisch. (Die in diesen Tagen beginnende Abschiedsstaffel wird das bestimmt wieder eindruckslos zeigen.) Grund dafür ist die haarsträubende Diskrepanz zwischen Beschreibenden und Beschriebenen, ein kaputter Kompass im Verortungswahn. Menschen wie die Geißendörfers geben sich gerne als ständige Vertretung des sozialen Gewissens, sich immer auf der richtigen Seite wähnend, argwöhnisch blickend auf die da oben, die Wahrheitsverdreher, die Indoktrinierer, die Anderen.
Jedoch: Sind diese Anderen wirklich die Anderen?
Liebe Hana aus der NRZ, kennen Sie den Film „The Others“ mit Nicole Kidman? Oder „Shutter Island“ mit Leonardo di Caprio? Bestimmt. „Wir sind nicht DIE! Wir sind nicht die Anderen!“ (Ich filmzitiere leicht abgewandelt, um nicht unnötig zu spoilern.) Hana, der Moment des Erkennens war für Kidman und di Caprio im jeweiligen Film sicher schrecklich, doch es hilft ja nichts: Sie und ihr Vater sind die Anderen! Sie selbst sind „die da oben“. Genauer: links oben. Sie selbst sind die Wahrheitsverdreher, die Indoktrinierer. Das künstliche Lindenstraßengelände in Köln wirkt auf den ersten Blick täuschend echt, genau so wie ein echter Plattenbau in Köln oft auf den ersten Blick künstlich wirkt – ich habe Verständnis, dass es in Ihrem Leben leicht zu Verwechslungen kommt. Und allemal habe ich Verständnis für Existenzangst:
Natürlich hat die Crew der Lindenstraße keine Freudensprünge gemacht angesichts der Tatsache, dass ihr Goldesel demnächst den Bolzenschuss kriegt; ich selbst hege die Befürchtung, dass demnächst etliche beschäftigungslose Kleindarsteller im Rheinland auf Comedy umschulen werden. Auch Hana Geißendorfer dürfte eine Schrecksekunde erlebt haben: „Oh Gott, was mache ich jetzt? Meine Zukunft, mein Leben!“ Für die Londoner Rhodos-Rheinländerin aus Paris gewiss keine Angst mit langer Wirkung, schließlich wird jemand wie sie schnell aufgefangen, da bin ich sicher. Aber diesen kleinen Moment, Hana, den sollten Sie nicht vergessen, denn:
Er offenbarte Ihnen ein Gefühl, das immer mehr Menschen als Dauerzustand durchleben müssen. Menschen, die nicht in der Welt zu Hause sind, sondern das Lehrstück „Die Welt zu Gast bei Freunden“ aufführen müssen, ohne das Theater verlassen zu können; Frauen, die auf dem Weg zur Spätschicht oder im Schwimmbad Angst um ihre Unversehrtheit haben; Männer, die für ein paar Penunsen Lohnerhöhung kämpfen müssen; Familien, deren Eigenheim auf einen Schlag seinen Wert verloren hat aufgrund politischer Entscheidungen, die im Lindenstraßenland Rackete-haft zu Wasser gelassen, aber nicht ausgebadet werden müssen; Menschen, die von der Arbeit geschafft „ich kann nicht mehr“ rufen, ohne dass danach eine erlösende Filmklappe schlägt; Menschen, die nicht am Bahnhof Deutz vom WDR-Abholdienst aufgepickt werden. Ich rede hier von denjenigen Menschen, die in der Lindenstraße allzu gern durch tumbe Schweinsgesichter und eklige Hausmeister repräsentiert werden, sofern sie eine Ihrem Vater zuwiderstehende Gesinnung vertreten. Denken Sie drüber nach, Hana, wenn der nächste Auftrag vom Gebührenfernsehen an Ihrer Altbautür klopft.
Ja, die Lindenstraße hat thematisch immer alles drin, was drin sein muss, wenn man immer alles drin haben will. Natürlich kenne auch ich in meinem Umfeld ein paar Lindenstraßen-Seher. Wenn die Serie mal zur Sprache kam, so hörte ich stets anerkennende Sätze wie „die greifen schwierige Themen auf“ oder „da geht es auch um Randgruppen“ oder „die bauen immer aktuelle, politische Sachen ein“ usw. Immer wieder. Aber wissen Sie, was ich sogar von großen, treuen Fans der Serie niemals gehört habe? Never ever? Also wirklich NIE?!
Nicht ein einziges Mal habe ich gehört: „Ey, die Lindenstraße ist im Moment so spannend, ich kann’s kaum abwarten bis zur nächsten Folge.“ Ebenfalls nie gehört: „Bei der Lindenstraße neulich habe ich fast geweint, so sehr war ich bewegt“. Und schon gar nicht gehört habe ich „Mensch, was haben wir gestern gelacht bei der Lindenstraße, das war so lustig.“ NIE!
In amerikanischen Serien funzt das zum Teil wie geschmiert: „Dr. House“ lieferte in seiner Hochphase mit jeder Folge ein Höchstmaß an Witz, an Spannung, an sozialen und ethischen, teils tief ins Philosophische gehenden Anregungen – das mag vielleicht nix mit dem Alltag in einer deutschen Lindenstraße zu tun haben, doch wie gesagt, Hana: Das hat Ihre Serie ebenfalls nicht! Allein rationale Argumente führten immer wieder zu Fortsetzungen, und irgendwann war die Anzahl der Fortsetzungen und die damit verbundene lange Lebensdauer der Serie selbst zu einem rationalen Argument geworden. Liebe Hana, ganz ehrlich:
Ich spürte keine gehässige Genugtuung, als ich erfuhr, dass die Lindenstraße bald zur Sackgasse wird. Ich spürte vielmehr echte Erleichterung und Freude! Es macht mich glücklich, dass sogar das große Lebenswerk Ihres Vaters endlich ist. Nun werden andere Kreative eine Chance bekommen, sich auf dem Sendeplatz zu beweisen, das ist nur fair, so ist das Leben. Ihr Vater hat mit Gebührengeld ein Imperium erschaffen dürfen, und Sie profitieren davon – bis an ihr Lebensende. Es reicht! Wäre die Lindenstraße wirklich einem breitem Publikum so viel wert, wie es intern offenbar geglaubt wird, dann würde die Serie bei privaten Anbietern weitergehen, eine solche Gelegenheit könnte sich Netflix gar nicht entgehen lassen. Bestimmt werden viele die Lindenstraße in guter Erinnerung behalten, aber niemand wird sie vermissen. Danke für das anregende Interview in der NRZ, Überschrift: „Wir sind alle sehr traurig“.
Ludgers Beiträge können Sie auch hören unter www.ludger-k.de/nachgehoert
Nächster großer Live-Termin als Kabarettist:
25.01.2020 in der Stadthalle Holzminden (www.eventim.de)