Tichys Einblick
Metaethics 18

In den Sümpfen der Wahrheit

Das Problem mit vorlaufender Zensur ist: So wie niemand das ungezeugte Kind vermisst, so vermisst niemand die ungesagte Wahrheit. Niemand fragt nach der Wahrheit, von der er nicht hörte. Ich sage Ihnen persönlich eine besinnliche Weihnachtszeit voraus!

Der Wanderer, auf seinem Weg von einem Berg zum folgenden, pausiert nicht nur auf dem Gipfel, sondern auch im Tal, zwischen den Bergen. Der Wanderer schaut zurück, und er blinzelt nach vorn, in die Sonne.

Auch ein Jahreswechsel ist ein Zwischenhalt. Doch seien wir – wie immer! – ehrlich: Dieses Neujahr scheint nur ein Plateau zu sein, kein Tal. Dieser Jahreswechsel ist wenig mehr als eine Wegmarke beim Kullern ins Unbekannte. Reden wir dennoch über die Dinge, die uns beschäftigten, und die uns beschäftigen werden.

Vorab: Vorhersagen

Vor dem Anfang dieser Rückschau noch eine Frage, die sich alle konservativen (sprich: realistischen) Mahner & Warner stellen müssen: Riskiere ich, Pygmalion zu sein, dessen Statue zum Leben erwachte? Ich habe dieses Jahr einige Male ein düsteres Szenario gezeichnet. Ich habe etwa vor ernsthaften Zensurbestrebungen gewarnt. Doch ich warnte, damit es eben nicht wahr wird. Es wurde wahr. Der Minister Sinnen meine Galatea? Zuviel! – Andere zeichneten schüchtern ein Szenario, wie das Aufheben von Grenzkontrollen die Deutschen daran erinnern würde, wofür zumindest alle funktionierenden Staaten dieser Welt diese »Grenzkontrollen« haben. Die Warner wurden wieder als Hetzer verunglimpft. Es wurde dennoch wahr. Soll man also alle Prognosen und Warnungen aufgeben, weil man erst beschimpft wird, aber keinen Lohn empfängt wenn das Befürchtete eintritt? »Tread lightly«, würde der Angelsachse sagen.

Zuerst: Medien

Hier bei Tichys Einblick gab es dieses Jahr auch die ein oder andere medienkritische Äußerung. Man muss immer ein prüfendes Auge auf das Treiben der Kollegen richten. Im November dann, wenige Tage vor der US-Wahl, gab ich die Hoffnung auf. »Wir brauchen neue Medien, die alten haben fertig«, rief ich. In Form der US-Wahl erlebten wir das moralische wie prognostische Waterloo der Meinenden. Doch fanden sie ihre Sinne wieder? Nein, einige schienen endgültig durchzudrehen.

Man redet heute mit Journalisten und es fühlt sich an, als spräche man mit Sekten-Jüngern. Das Licht brennt, die Augen flackern, aber aus dem Mund klingen die immergleichen Verse, ihre Stimme ein apokalyptisch euphorischer Singsang, jede Kritik an der Wunderbaren eine Blasphemie. Wenn aber das Delta zwischen Realität und Bericht selbst einen dissonanzerfahrenen Qualitätsjournalisten zu zerreißen droht, dann wird sogar dieser sich in den Staub der »Selbstkritik« hinablassen. Oder so tun, als ob. Für Selbstkritik fehlen manchem unserer Meinungsarbeiter schlicht die Sinne – ja, das Fehlen dieser Sinne war Einstellungsvoraussetzung. (Man vergleiche: Die sinclairsche Unmöglichkeit, einen Menschen zum Verstehen zu bringen, wenn sein Gehalt vom Nichtverstehen abhängt.) Wie ein Blinder, der die Augen zusammenkniffe, um besser zu sehen, so versuchen Journalisten, zu erkennen, was sie falsch gemacht haben. Ein besserer Mensch als ich verkniffe sich das Lachen.

Man muss wissen, wann man die Hoffnung aufgibt. Die wenigen realitätsnahen Profi-Schreiber müssen 2017 neue Publikationen »für die Menschen« gründen (Herr Tichy hat ja vorgelegt).

Politik

Kommen wir von den Dienern zu ihren Herren, reden wir von der Politik, sprich: von Merkel. Ich lese heute Merkels Politik als Aktionskunst im brutalglobalen Maßstab – wie sonst?

Was wird von Merkel bleiben, in fünf Jahren? Wenn sie so weitermacht: Ein zerrüttetes Europa, ein selbstverlorenes Deutschland und einige bekannte Aussprüche, die nur aus Dokumentationsgründen – oder vielleicht aus Ironie – in Zitatesammlungen aufgenommen werden.

»Alternativlos« war Merkels erstes wie berühmtestes Wort. Wie wurde sie dafür gescholten! Nichts sei alternativlos! Es gäbe immer eine zweite Möglichkeit, sagte schon Camus! Selbst diese Alternativ-Partei mit der aufrechten Männlichkeit im Logo stellte sich auf, dem bösen Wort die (inzwischen ausgetretene) Denkerstirn zu bieten. Heute grient sich die Kanzlerin ins Pfarrerstochterfäustchen. Ob nun Schulz oder Gabriel als sozialdemokratischer Schierlingsbecher aufgestellt werden, eine Alternative sind sie beide nicht. So wurde Merkel tatsächlich auf ihre besten Tage noch »alternativlos«.

Wahrheit

Von den Medien und der hohen Politik gelangen wir in allerhöchste Sphären: Zur Wahrheit, Brüder, zum Licht!

Alle wollen sie heute die »Wahrheit«. (Nur der Spiegel ist noch in einer Art Eigentherapie, hat sich eingeschlossen und wiederholt: »Keine Angst vor der Wahrheit, keine Angst vor der Wahrheit!«)

In Feuilletons und YouTube-Kommentarspalten wird diskutiert, was wahr und was Wahrheit sei. Die Generation Post-Klassische-Bildung fühlt sich schlau, wenn sie »postfaktisch« sagt, was übersetzt auch nur »du bist doof« bedeutet.

Doch was ist nun diese »Wahrheit«?

Das Problem mit vorlaufender Zensur ist: So wie niemand das ungezeugte Kind vermisst, so vermisst niemand die ungesagte Wahrheit. Niemand fragt nach der Wahrheit, von der er nicht hörte.

Genau diese Art vorlaufender Zensur wollen nun herumgereichte Internet-Promis (heißen die »I-Promis«?) mittels EU-Charta installieren. Diese Art, die vermeintlich unflätige Meinung schon vorm Keimen zu ersticken, das will Maas bei Facebook und Co. durchsetzen. Kennen Sie »Minority Report« von Phillip K. Dick? Dort geht es um Mord, der präventiv verhindert werden soll. Im Internet wollten sie erst Pornographie, dann Terrorismus und später »Hass« mit Zensurwerkzeugen präventiv ausfiltern. Sie möchten verhindern, dass die unschuldigen Äuglein der Bürger das Schlimme überhaupt zu sehen bekommen.

Ende 2016 wurden sie endlich ehrlich. Sie ziehen nun gegen »Fake News« zu Felde. Also: Un-Wahrheit. Auch Hillary Clinton, die immer die Wahrheit sagt und keine Enthüllung zu fürchten braucht, meldete sich zurück – und forderte Gesetze gegen »fake news«.

Deutsche Leitmedien meinen mit »fake news« wahrscheinlich nicht die eigenen Jubelgesänge auf die Regierende, nicht die leichtgläubigen Fehlmeldungen oder die Lügengeschichten von einzelnen Guten. Das alles sind »ehrliche Irrtümer«. Vor allem aber: Man könnte es sich ja vorstellen, dass es passierte! Was vorstellbar ist (nachdem es gesagt wurde), das ist ja fast wie wahr. Nach gefühlter Wahrheit und offizieller Wahrheit lernten wir 2016 einen ganz neuen Wahrheitsbegriff: Wahr ist, was man sich als wahr vorstellen kann. Die »vorstellbare Wahrheit« – der Rest ist »fake news«.

Fazit

Was bleibt? Es bleibt ein ungläubiges Staunen über »die, die schon länger hier sind«. Über »uns«. Es ist mir nicht immer klar, wieso »wir« die Ereignisse sich so ereignen lassen.

Ich habe nun etwas Angst, weitere Prognosen abzugeben. (In der Print-Ausgabe habe ich es dennoch getan.) Den Ängstlichen mag realiter die Zukunft gehören, das stimmt, doch den Wortmutigen gehören immerhin die Zeilen. Also will ich versuchen, Ihr Glück und unser Schicksal zu zwingen, mit der Kraft des schmalen Wortes: Ich sage Ihnen persönlich eine besinnliche Weihnachtszeit voraus! Möge auch das wahr werden.

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