»Sie kennen bestimmt George Carlin, und wenn Sie ihn nicht kennen, holen Sie es schnell nach! YouTube hilft. George Carlin war einer der letzten großen US-Komiker, damals, als Stand-Up noch wichtig und philosophisch und nicht nur politische korrekte Grütze war.
George Carlin sagte einmal über Gott:
»Religion hat die Menschen überzeugt, dass es einen unsichtbaren Mann gibt, im Himmel lebend, der alles, was du machst, jede Minute des Tages beobachtet. Und der unsichtbare Mann hat eine Liste von zehn spezifischen Dingen, von denen er nicht will, dass du sie tust. Und wenn du eines dieser Dinge tust, wird er dich an einen ganz besonderen Ort schicken, wo es brennt und wo Feuer und Rauch und Folter und Qualen sind, wo du für immer leben wirst, und leiden und leiden. Und brennen. Und schreien, bis ans Ende der Zeit. Aber er liebt dich. Er liebt dich! Er liebt dich und er braucht Geld.«
Geradezu göttlich, wie Carlin hier zwei Image-Probleme des Allerhöchsten auf den Punkt bringt. Erstens fällt es doch auf, wieviel Geld dieser allmächtige Gott von den unallmächtigen Menschlein benötigt. Wer dem Herrn Nietzsche darin zustimmt, dass Gott tot sei, dem müssen die Eintreiber von Kirchensteuer doch wie ein zwielichtiger Enkel vorkommen, der den Tod seines Opas verheimlicht, um weiterhin dessen Rente zu kassieren. Und zweitens bleibt die alte Frage, wieso ein liebender Gott so locker mit so viel Leid um sich wirft.
Es gab Zeiten, da lächelte man in Deutschland über konservative Amerikaner, für die Gott ein politisches Thema war. Man schwor zwar »so wahr mir Gott helfe«, aber auch da waren es irdische Richter, nicht der Zorn Gottes, den ein Eidesbrecher zu fürchten hatte. Doch in Zeiten von Gefühlspolitik und brutalstmöglicher Toleranz ist Religion wieder zum Thema geworden. Im Fernsehen treten Missionarinnen und Missionare auf. In den Schulen wird ganz laut gebetet. Und wer den Gott jener einen Religion beleidigt, kann und wird bestraft werden. Wenn nicht von den Missverstehenden unter ihren Anhängern, dann vom Gesetzgeber. Dafür haben wir den §166 StGB, den Blasphemieparagraphen.
Nun wäre es für den feurig Vernunftbegabten naheliegend, die Schultern zu zucken ob dieser staatlich geschützten Frömmelei. Doch damit würden wir es uns zu einfach machen. Spätestens wenn die Kanzlerin ex cathedra von »missverstandener« Religion theologisiert – und damit impliziert, sie wüsste, was »richtig verstandene« Religion sei – müssen politisch Interessierte darüber reden.
Wir brauchen die Religion. Besonders wir Aufgeklärten (Unaufgeklärte sind ja immer die anderen) brauchen sie. Nicht unbedingt um ihrer selbst, dass sollte weiterhin jeder für sich entscheiden, aber um unserer lieben Begriffe willen. Begriffe müssen ja öffentlich und allgemein sein, um zu funktionieren.
Missverstandene Religion?
Wir brauchen Religion, um dem Begriff »Missbrauch von Religion« einen Gegenstand geben zu können. Ohne Gott keine Religion (im traditionell europäischen und nahöstlichen Sinn zumindest), ohne Religion keine »missverstandene« Religion und wenn der Begriff »missverstandene Religion« keinen Inhalt hätte, dann hätten wir alle ein Riesenproblem.
Ob die Attentäter von 9/11, der sogenannte »Islamische Staat« oder Anis Amri vom wahlkampftechnisch eher ungünstigen Berlin-Attentat: Im Diktum unserer Weisesten und Mächtigsten sind die Mörder immer nur von »missverstandener« Religion motiviert. Ihr Morden, ihr Hass und ihre Verachtung aller Ungläubigen gilt stets als »Missverständnis«. Nach »kulturlinker« Doktrin ist Terrorismus eigentlich nur ein großes Missverständnis. Wenn Gewalt passiert, wird auch der Abgeordnete mit abgebrochenem Theaterstudium zum Welttheologen. Wir wissen nichts, aber wir wissen, dass jene Leute ihre Religion missverstanden haben.
Fragen wir einmal rein hypothetisch: Was wäre, wenn der Schwulenhass des Orlando-Attentäters nicht »Missbrauch« wäre sondern logische Konsequenz? Wenn, um beim Orlando-Beispiel zu bleiben, seine persönliche Religion tatsächlich ein gefährliches Problem mit Schwulen hätte, dann hätte Wahlkampf-Trump gar Recht und das aufgeklärte Europa hätte durch Merkels offenes Herz das resultierende Problem in den Städten und auf den Straßen vervielfacht – Das darf nicht sein. Das kann nicht sein. Wir müssen dringend angeben, was »Missbrauch von Religion« ist.
Die Antwort zur Frage, ob Merkel und andere Freunde universaler Liebe den Kapitulationsbrief der Aufklärung unterschrieben haben, hängt an dieser auf den ersten Blick nur philosophischen Frage: Wie belastbar ist der Begriff »missverstandene Religion«? Ist Religion nicht per Definition immer genau das, was der einzelne Gläubige eben unter seiner Religion versteht? Wer ist Frau Merkel, mir zu sagen, ob ich meine eigene, persönliche Religion richtig verstanden habe? (Randfrage: Wo sind eigentlich all die Religionsversteher, wenn es in Deutschland gegen Scientology geht? Wo sind die Bekundungen, dass auf den ersten Blick teure Seminare und scheinbare Machtbestrebungen nur »missverstandene« Religion seien, denn alle Religionen – also auch Scientology – seien im Kern doch gut?)
Es ist spät. Die Zwerge werfen lange Schatten, besonders wenn sie sich bei den Oscars und Goldenen Kameras blamieren. Wir brauchen eine »Theologie der missverstandenen Religion«, die ganz ohne sonstige Kenntnisse von Religion auskommt. Und wir brauchen sie dringend. Ich will Ihnen deshalb eine mögliche Bedeutung des Begriffs »missverstandene Religion« vorschlagen, einen bissfesten Inhalt für die von unseren Gewählten gewählte Leerstelle.
Du bist nicht Gott, auch nicht der kleine Gott
Zumindest die drei abrahamitischen Religionen haben, mit anderen, eine wichtige Distinktion gemeinsam: Du, Mensch, bist nicht Gott. Du magst zum Abbild Gottes geschaffen und vom heiligen Geist durchdrungen sein. Du bist aber nicht Gott, und das zu behaupten, wäre Blasphemie. (Der letzte Mensch, der mit einiger Resonanz behauptete, er und Gott seien eins, landete erst vor Gericht und dann am Kreuz, und viel besser würde es ihm auch heute nicht ergehen.)
Der einzelne Gläubige ist nicht Gott. Das mag wie eine Trivialität klingen, doch es hat eine wichtige Konsequenz. Der Einzelne ist weder unfehlbar, noch allwissend und schon gar nicht von Natur aus gerecht.
Wer einer monotheistischen Religion angehört, der muss qua Theologie eine Trennung zwischen sich und dem Allerhöchsten einziehen. Dort der Gerechte, Allmächtige, Wahrhaftige. Hier du, der Sündige, Hilflose, Fehlbare. Die Aufhebung dieser Trennung ist, wo ich den Begriff »Missbrauch der Religion« ansiedeln möchte.
Nur Gott steht es zu, über Tod und Leben zu entscheiden. (Und Er hat dafür einige bewährte Verfahren: Unfälle, Organversagen, verstopfte Arterien, durchgeknallte Zellhaufen oder schlicht verlangsamte Zellteilung, sprich »Alter«.) Wer seine Religion als Rechtfertigung nimmt, selbst Gott zu spielen, missbraucht und missversteht sie. Du bist nicht Gott, also hast du kein Recht, über das Leben anderer Menschen zu richten.
Nur Gott steht es zu, über das innere Leben der Menschen zu urteilen. Wenn du Menschen hasst, weil sie schwul oder hetero sind, links oder rechts, ungläubig oder gläubig, dann spielst du dich zum »kleinen Gott der Welt auf«, wie Goethe es genannt hat. Du bist nicht Gott, also hast du kein Recht, über das Innere anderer Menschen zu richten.
Nur Gott darf davon ausgehen, in seinem Urteil unfehlbar zu sein. Die Urteile, die wir Sterblichen fällen, sind allesamt nur provisorisch. Jedes menschliche Urteil, sei es wissenschaftlicher, juristischer oder eben auch religiöser Natur, ist immer nur der letzte Stand des Irrtums. Wer in seine Meinung und Bewertung nicht die Möglichkeit auch vollständigen Irrtums einbaut, der erhebt sich selbst zum »kleinen Gott«. Selbst wenn der Gläubige noch so fest meint, der Höchste spräche durch ihn, so bleibt es seine Pflicht, die Möglichkeit des Irrtums einzuberechnen. Wer seine eigene Religion benutzt, um sich selbst von der eigenen Unfehlbarkeit zu überzeugen, der missbraucht und missversteht sie.
Wir, die wir – trotz aller Aussichtslosigkeit – den Weg des Westens von der Klippe wegsteuern wollen, müssen allen Neuankömmlingen und Gästen zurufen: Willkommen! Schön, dass Sie da sind. Damit aber keine Missverständnisse aufkommen: Hierzulande gilt keiner als unfehlbar. Der Kanzler nicht, der Präsident nicht, der Pfarrer nicht – und auch Sie nicht. Wenn Sie aber meinen, dass höhere Mächte Ihnen irgendeine Art von Unfehlbarkeit schenken, oder dass Ihr dogmatisches System den Hass und die Gewalt gegen Mitmenschen rechtfertigen könnte, lassen Sie uns Ihnen diesen Zahn gleich ziehen. Wir sind nicht unfehlbar, Sie und Ihr geistlicher Anführer auch nicht. Wir hier versuchen noch immer, so etwas wie »Aufklärung« zu leben. Aufklärung bedeutet eben auch: Als Einzelner wie auch als Gesellschaft gemeinsam lernen. Dazulernen. Jeden Tag neu. Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen, außer du bist Gott. Du bist nicht Gott.