Die aktuelle Welt am Sonntag kommt als „große Jubiläumsausgabe“ daher. Eröffnet wird mit einer Infratest-Umfrage: „Worauf die Deutschen stolz sind“. Eine Fotografie auf dem Titel zeigt Angela Merkel als „Gewinnerin“ der Umfrage neben einem der Verlierer. Verloren deshalb, weil unbedeutend in Sachen „Stolz“: die deutsche Natur.
16 Prozent der Deutschen sind stolz auf Merkel, was zunächst wenig klingt, aber in dieser Umfrage gewichtig ist, weil sie damit unter den vielen Angeboten, die zur Wahl standen, weit vorne liegt.
16 Prozent bekam allerdings auch Volkswagen – das wiederum beruhigt. So hat „Stolz“ als Kategorie hier offensichtlich auch etwas eiskaltes, ist also so etwas wie Anerkennung eines Überlebenswillens und nicht ausschließlich eine durchaus verstörende Sympathieerklärung an die Bundeskanzlerin.
Nach Stolz hätten sie besser nicht gefragt
Die Welt am Sonntag ist ein Jahr älter als die Bundesrepublik selbst. Das Land feiert seinen 70sten Geburtstag erst im kommenden Jahr. Nun darf man sich fragen, wie die Jubiläumsausgabe ausgesehen hätte, wäre das Blatt drei oder vier Jahre früher zum ersten Mal erschienen, dann nämlich wäre die Ausgabe zum Jubiläum mitten hinein in Refugees-Welcome-Euphorie der Medien gefallen – eine, von der sich auch die Welt am Sonntag, neuerdings sichtbar bemüht, zu distanzieren versucht.
70 Jahre Welt am Sonntag. Wolfgang Schäuble (CDU) kam gerade in die Grundsschule, als das Blatt zum ersten Mal erschien. Ein üppiges Interview mit dem amtierenden Bundestagspräsidenten steht im Mittelpunkt dieser besonderen Ausgabe. Und leider damit auch ein an Beliebigkeiten und Allgemeinplätzen schwerlastiges Gespräch, das im Wesentlichen so wirkt, als bewerbe sich Schäuble hier als Helmut Schmidt von morgen – mit jenem Schmidt, der hinter Merkel auf Platz zwei besagter deutscher Stolz-Skala gelandet ist. Nun schützt Alter vor Torheit nicht. Wenn es aber im Alter keine Torheiten mehr gibt, dann hat sie oft einer umwerfenden Langeweile Platz gemacht.
Schäuble kann beides: Langeweile und Torheit, wenn er auf die seltsame Frage, aus welchen Kräften sich die AfD speist, antwortet:
„Die Regierung muss die Begrenztheit der Realität vertreten. Demgegenüber kann eine eher demagogische Opposition viel leichter paradiesisch wirkende Versprechungen machen. Wobei wir alle wissen: Diejenigen, welche das Paradies auf Erden versprechen, schaffen meistens die Hölle.“
Ehrlich, das ist auf eine Weise so furchtbar verdreht, das muss man sich noch einmal vorlesen. Wolfgang Schäuble behauptet hier also, die AfD hätte den Menschen ein Paradies auf Erden versprochen? Aber womit und wann? Wenn stimmt, was Schäuble hier sagt, dann würde besagte Hölle doch viel eher dem Versagen eines „Wir schaffen das“ folgen. Oder der Erkenntnis, dass beispielsweise eine Katrin Göring-Eckardt zu viel versprochen hatte, als sie Refugees-Welcome berauscht auf die paradiesischen Zustände von morgen hinwies, als sie sagte: „Was die Kanzlerin gemacht hat, ist eine große Idee davon, was es heißt, dieses Land neu zu denken. (…) Die Arbeitgeber scharren längst mit den Füßen und sagen: Wir brauchen diese Leute.“
Realitätsverweigerung
Was Schäuble mit dieser völligen Verdrehung demonstriert, ist nun allerdings nicht die Begrenztheit der Realität, sondern schon die Verweigerung einer Realität, die zwangsläufig darin münden muss, die Lüge zur Wahrheit zu verklären bzw. in einem Anfall von Verzweiflung den Menschen so etwas wie reinen Wein über die Agenda dieser Regierung einzuschenken, wenn Schäuble weiter darum bittet, zu akzeptieren, dass Abschiebungen nicht klappen. Der Rechtstaat würde das nicht hinbekommen, also müsse nun stramm integriert werden.
Die laueste aller Entschuldigungen für das Versagen der politischen Klasse in Deutschland kommt ebenfalls von Wolfgang Schäuble, wenn er Mark Twain zitiert: „Prognosen sind eine schwierige Sache. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Und noch hintendran hängt, als wolle er witziger sein als Twain: „Die Menschen werden sich wieder drauf besinnen, dass die stabilisierende Kraft der Volksparteien ein Segen ist.“ Die Menschen im Land also von Sinnen? Oder die AfD als neue Volkspartei ausgelobt von Wolfgang Schäuble?
Sie dürfen raten, was hier gemeint sein könnte. Schäuble spricht von „Zeiten der Modernisierung“, der sich die AfD und andere entgegen bewegen würden. Wichtig sei es für ihn, die Welt so zu begreifen, wie sie ist „und uns nicht nostalgisch eine Welt herbeiträumen …“ Was für ein Spiel mit Meta-Ebenen, die längst hoffnungslos durcheinander geraten sind. Die guten greisen Thesenonkels am Ende ihrer Ernsthaftigkeit angekommen.
Düster die Bilder und Worte
Diese Jubiläumsausgabe wurde ausgestaltet von einer Reihe von Fotografien des Kanzlerinnen-Fotografen Andreas Mühe. Düstere Aufnahmen, als wären die Illustratoren der Grimms-Märchenbücher über dieses Deutschland von heute hergefallen, während Mühe dazu wohl Rammstein auf seinen In-Ears hörte und seine Aufnahmen anschließend in Danziger Goldwasser entwickelte, geborgen aus dem Wrack der Wilhelm Gustloff.
Eine einseitige Werbeanzeige wirbt anschließend für deutsche Gene: „Das erste Elektro-Auto mit Audi DNA.“ Der Hintergrund der Aufnahme des neuen Audi e-tron so düster, wie die Bilder Mühes. Edel ist immer irgendwie düster: Die Marke Audi lebt seit den 1980ern von dieser erfolgreichen Düster-Anmutung – allzu heiter wirkt immer billig. Immerhin das kann als deutscher Fingerprint gelten.
Schön, wie ein eher randständiger Kommentar von Stefan Aust – für die Jubiläumsausgabe muss jeder mal ran, der Rang und Namen hat bei Springer – schön, wie Austs Kommentar ein bisschen diebisch vom Hollywood-Schauspieler Gerard Butler geentert wird, dessen Werbung für ein Hemd von Signature in den Text von Aust hinein vagabundiert, wo der ehemalige RAF-Hausbiograf Axel Springer als Visionär mit Weitblick beschreibt – was für ein vollendeter Sieg für den Verleger, wenn auch post mortem.
Verdrehte Perspektive
Unter einem weiteren Mühe-Foto aus dem menschenleeren ebenfalls verdüsterten Büro von Angela Merkel im ansonsten ja Licht durchfluteten Kanzleramt von 2009, ein Text von Richard Herzinger von 2018, wo er von einer »Propaganda suggerierten „Flüchtklingskrise“« und noch mehr Blödsinn schreib, wie davon, dass der Erfolg des rechten Hassmilieus sich daraus speisen würde, „Dialog im Sinne pluralistischer Auseinandersetzung auszulöschen.“
Wer die letzten Jahre nicht im Ausland in Quarantäne verbracht hat, dem kann nicht entgangen sein, welche staatlich hoch subventionierten multiplen Ausgrenzungs-, Diffamierungs- und Diskreditierungskampagnen jedwede Merkel-kritische Haltung seit Ende 2015 ausgesetzt ist. Wer das verleugnet, wer das abstoßende Zuspiel der meisten Leitmedien nicht erlebt haben will, der war nicht dabei und hat also zu schweigen über eine Realität, die er verweigert, sich ihrer wenigstens im Nachhinein zu vergewissern.
So wie auch Herzinger nehmen weitere Jubiläums-Pflichtgratulanten Bezug zu Chemnitz. Chemnitz als neues Heils-Mantra. Aber nicht etwa mahnend erinnert an den abscheulichen Messermord und die beiden Mordversuche, sondern ausschließlich erinnert an, wie Herzinger schriebt, die „Hassaufmärsche von Chemnitz“.
Immerhin erkennt Herzinger die Schwere des Problems richtig, wenn er schreibt, die Rechten („rechtsnationalistischen Bewegungen“) von heute würden „sich erfolgreich als Speerspitze der Durchsetzung von mehr und authentischerer Demokratie“ ausgeben. Das ist deshalb besonders bemerkenswert, weil es im Umkehrschluss wiederum die Demokratie an sich in Frage stellt. Herzinger weiter: „Diese Umwertung der Werte sorgt für flächendeckende Konfusion.“ Wer möchte ihm da widersprechen?
„Deutschland entkernt und hysterisch“
Der wahrscheinlich schwergewichtigste Gratulant dürfte Bill Gates sein, der seinen Essay in der Welt am Sonntag dafür nutzen darf, ein bisschen Gratiswerbung für seine gigantische Nichtregierungsorganisation zu machen und der einleitend die „Führungspersönlichkeiten der Generalversammlung der Vereinten Nationen“ aufrufen darf, der Armutsbekämpfung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Gleich neben Gates hat sich Ulf Poschardt in der Jubiläumsausgabe mit seinem Leitartikel eingerichtet, der den Titel trägt: „Deutschland entkernt und hysterisch“. Poschardt attestiert dem Land hier, der „magische Kitt der Gesellschaft löst sich auf.“ Und das garniert er mit statischen Pflichtsätzen, wie diesem hier: „Die sogenannte Alternative für Deutschland ist keine, weil sie sich an dem heiligsten Kern der Nachkriegsordnung versündigt.“
Nun ist die Nachkriegsordnung wohl vor allem dadurch gekennzeichnet, dass politisch „Heiliges“ ein für alle Mal eliminiert wurde. In einem Satz also der ganze Zwiespalt, die innere Zerrissenheit des Chefredakteurs abgebildet. Aber er mag sich trösten, trifft er damit doch auch ziemlich genau die Gefühlslage einer ganzen Nation auf der Suche nach etwas, das ihr noch heilig ist.
„Wer integriert, muss wissen, wer er ist oder sein will.“
Dass immerhin ist dann vorbildlich journalistisch, dann jedenfalls, wenn man 2018 noch mit so etwas wie einem Nachkriegs-Gonzo-Journalismus aus der Zeit von Wiener und Tempo liebäugelt. Immerhin hackt Poschardt auch in die Gegenrichtung, wenn er das politische Establishment ebenfalls kritisch beäugt und sich fragt: „Man möchte sich dieses Personal nicht vorstellen, wenn sich die Konjunktur eintrübt.“ Und mit Blick auf die gewaltige Integrationsaufgabe noch anfügt: „Wer integriert, muss wissen, wer er ist oder sein will.“
Viel ist das wirklich nicht, aber es scheint zu reichen, der Welt am Sonntag wie den weiteren Springer-Blättern 2018 irgendwie das Leben zu retten, während Blätter wie der Spiegel ihr öffentliches Sterben zelebrieren, als gäbe es kein Morgen mehr. Der Spiegel allerdings feierte seinen 70sten schon im letzten Jahr. Mal schauen, wo die Welt am Sonntag 2019 stehen wird.
Sei es drum: Ein herzliches „Glück auf!“ für Verlag, Redaktion und die vielen fleißigen Mitarbeiter.