Tichys Einblick
"Mitgefühlt und Kritik können nebeneinander gedeihen"

DER SPIEGEL Nr. 51: Die verstörte Nation – Verliert Deutschland seine Mitte?

Wie verändert die Massenmigration unsere Gesellschaft? Es ehrt unseren Autor Tomas Spahn, dass DER SPIEGEL seine Überlegungen aufgreift und sich auch den Menschen zuwendet, die in ihrem Leben mit der Politik der grenzenlosen Öffnung konfrontiert sind.

„Führungskrise: Deutschland kippt“ titelten wir auf dieser Website am 7. November zum Gastbeitrag von Tomas Spahn. DER SPIEGEL kommt in dieser Woche nicht nur mit einem längst überfälligen Titel zu der derzeit wichtigsten Frage, die landauf landab die Menschen bewegt: Wie verändert der Zustrom der Flüchtlinge unsere Gesellschaft? Er hat auch unsere damalige Headline als Cover grafisch umgesetzt.

Einzug der Debatte in den SPIEGEL

Chefredakteur Klaus Brinkbäumer griff diesmal für den Leitartikel „Das „Jahr der ‚Flüchtlinge“ persönlich in die Tastatur. Und was er schreibt, liest sich fast wie eine Vorgabe, nicht zuletzt an seine eigene Redaktion: „Objektivität ist in einer komplexen Krise wie dieser schwer zu erzielen… Wohlhabend sind heute Regionen, die in der Vergangenheit viele Flüchtlinge integriert haben; doch Integration kann nur gelingen, wenn der Staat nicht die Kontrolle verliert, und in Deutschland gibt es einen Kontrollverlust.“

Seine Schlussfolgerung: „Für die Medien heißt das: All das sollten wir beschreiben, sorgfältig intoniert und so korrekt wir möglich gewichtet. Mitgefühlt und Kritik können nebeneinander gedeihen, denn Herz und Kopf gehören zusammen.“

Die Beiträge „Der Aufstand der Ängstlichen“ und „Angespannt“ mit Texten zur Titelgeschichte fängt Stimmen von Menschen ein, die auf die eine oder andere Weise nah dran sind – als Helfer, als Nachbarn, als Mutter eines Grundschulkinds, als Handwerker, der Flüchtlingscontainer ausrüstet. Die ohnmächtige Wut wird greifbar. Dass viele Begegnungen aus sehr verschiedenen Gründen eine verstörte Mitte hinterlassen, kann nicht verwundern.

Wie Menschen anderer Nationen auf Deutschland und das Thema Flüchtlinge schauen, wird greifbar in dem Kultur-Beitrag „Ein Volksfeind“ von Wolfgang Höbel. Dem lettischen Regisseur Alvis Hermanis, ist die deutsche Willkommenskultur, die auch die Kunstproduktion in den Dienst der Solidarität stellt, nicht geheuer. Deshalb gab er dem Thalia-Theater einen Korb. Auch dies und die Reaktionen darauf sind interessante Facetten zum Thema verstörte Mitte. Es ist, als ob die Wirklichkeit nun doch im SPIEGEL angekommen ist und nicht nur die eigene Wunschvorstellung beschrieben wird. Natürlich geht das nicht glatt ab. Wer die Staatstreue der Medien kritisiert muss mit dem SPIEGEL rechnen und wir abgekanzelt. Aber die Sozialen Medien haben längst ihre eigene Flughöhe – und der SPIEGEL agiert hilflos in diesem Wechselspiel. Dabei geht das Rennen noch zum Nachteil der Sonntagskonkurrenz von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung aus: Da wird noch Gottes Lob gesungen, weil die Medien sich den Debatten noch widersetzen und Soziale Medien sind der neue Teufel, der die selbstgefällige Ruhe in den Redaktionsstübchen stört.

Neue Ansätze auch bei dem Lohngleichschaltunggesetz

Die aktuelle Ausgabe überzeugt auch jenseits des Titels mit interessanten Beiträgen und guter Recherche. Häufig habe ich an dieser Stelle beklagt, dass der Leser zu wenig über Zusammenhänge und Hintergründe erfährt. Dass die Redaktion anders kann, zeigt sie diesmal bei etlichen Beiträgen, etwa wenn im Beitrag „Nachteil Frau“ beschrieben wird, warum sich die Gerechtigkeitslücke in der Entlohnung von Frauen und Männern nicht durch politische Initiativen und neue Gesetze wie dem Lohngleichschaltungsgesetz von Manuela Schweig  schließen lässt – Wunsch wird nicht Wirklichkeit.

Auch zur Stellungnahme von Beate Zschäpe hat sich die Redaktion die Mühe gemacht, Wunschbild und Wirklichkeit gegeneinanderzustellen. Eigentlich seltsam, dass die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit eine Selbstbeschuldigung der Beklagten war. Dabei hat sie das Recht, sich zu verteidigen.

Spannend zu lesen ist „Das Geheimnis der Villa im Taunus“. Was heute wie ein nettes Fachwerkhäuschen im beschaulichen Taunusstädtchen Kronberg ausschaut, war in der Vergangenheit ein bestens gesichertes und bewachtes CIA-Domizil, in dem über mehrere Jahre medizinische Experimente nicht nur an Spionen durchgeführt wurden. Wie Klaus Wiegrefe berichtet, weiß man heute aus BND-Dokumenten, dass die Regierung Adenauer von illegalen Verhörmethoden und weiteren gravierenden Rechtsverstößen gewusst hat.

Wie viel Boulevard muss sein, wenn es um einen Mörder geht? Antje Windmann zeigt in ihrem Beitrag über die Mutter des Mörders von Mohamed und Elias, dass ein solches Thema ohne Effekthascherei sogar noch eindrücklicher sein kann. Ein Meisterstück, das unter die Haut geht.

Was ist sonst noch hervorzuheben? In der Wirtschaftsstrecke sind es das Interview mit dem China-Kenner Sebastian Heilmann und der Bericht über die „Einhörner“ im Silicon Valley. Stefan Raab zieht sich von der Fernsehbühne zurück, und der SPIEGEL widmet seinem Abgang vier Medien-Seiten.

Einfach herrlich ist die Nachricht „Feine Genossen“ mit der Kurzcharakterisierung der Mitglieder des ehemaligen SED-Politbüros durch den BND – „selbstherrlich“ für Kurt Hager“, „knochentrocken, steif“ für Willi Stoph“, „fast unterwürfig“ über das Verhalten von Egon Krenz. Wäre spannend zu wissen, wie ausländische Dienste die Mitglieder der Bundesregierung charakterisieren.

Lesenswert die Meinungsseiten: Jan Fleischhauers Kolumne „Alphafrauen, Dirk Kurbjuweits Essay „Schöne, verdammte Norm“ und ganz besonders Stefan Bergs Debattenbeitrag „Mehr Demut“, ein Plädoyer– aus eigener Betroffenheit – für eine Medizin mit menschlichem Maß und eine neue Sicht auf Menschen, die nicht einer wie auch immer definierten medizinischen Norm entsprechen.

Die gute Nachricht zum Schluss: Schlemmen Sie zu Weihnachten, was das Zeug hält! Das geht ohne Reue, beschreibt Jörg Blech unter der Überschrift „Mahlzeit“. Aber nur dann, wenn Sie das Schlemmen in acht Stunden packen und dafür die restlichen 16 Stunden Verzicht üben, sagt der Spiegel Nr. 51.

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