Tichys Einblick
Deutschland lässt seine Familien im Stich.

DER SPIEGEL Nr. 5: Am Ende. Die Pflegekatastrophe

Die Titelgeschichte von Ullrich Fichtner „Am Ende aller Kräfte“ ist eine preisverdächtige Reportage über den Alltag in einem Pflegeheim, ohne Rührseligkeit geschrieben, aber realoistisch.

Der Spiegel überzeugt mich in dieser Woche mit einem wichtigen Titel und anderen lesenswerten Geschichten. Das Dauerthema Groko ist weitgehend ausblendet. Dafür spekuliert die Redaktion munter über politische Karrieren und Ämter: Annegret Kramp-Karrenbauer als Kronprinzessin von Angela Merkel, von der Leyen ist abgemeldet, Jens Spahn müsste ein Ministeramt bekommen, wenn er für Größeres aufgebaut werden soll („Damenwahl“), Martin Schulz vor der Entscheidung zwischen Parteivorsitz und Ministeramt („Eine Frage der Führung“).

Eine kleine Bombe zündet Sven Becker in „Ich nutze mein Netzwerk“ gegen Spiegel-Liebling Sigmar Gabriel mit. Zu seinen Zeiten als Wirtschaftsminister engagierte er 2014 Gesche Joost, die schon im Wahlkampfteam von Peer Steinbrück als Mitglied im Schattenkabinett geführt wurde, als ehrenamtliche Internet-Botschafterin. Nun stellt sich heraus, dass die junge Designforscherin das Thema „Ökonomie“ durchaus beherrscht: Das Ehrenamt ließ sie sich mit einer nicht kleinen monatlichen Aufwandsentschädigung vergüten, dazu Zahlungen für Telefon und eine Assistentin. Joost nutzte das Spotlight auf sie als Sprungbrett für weitere Posten, bis in die Aufsichtsräte von SAP, ING-Diba und Otto Bock. Stellen es der Spiegel und LobbyControl so dar, als müsse man mit Fingern auf die taffe Unternehmerin zeigen, so ist doch wohl eher die Naivität des Ministeriums in den Blickpunkt zu rücken.

Die Titelgeschichte von Ullrich Fichtner „Am Ende aller Kräfte“ ist eine preisverdächtige Reportage über den Alltag in einem Pflegeheim, ohne Rührseligkeit geschrieben – so wie der Alltag in diesen Häusern mit Rührseligkeit rein gar nichts zu tun hat. Dort ist alles eine Frage der Ökonomie, der Organisation.

Allerdings findet der Großteil der Pflege in den Familien statt. Dem trägt der Titel mit einem weiteren  Stück Rechnung, „Mamas hilflos Helfer“ von Alexander Jung und Cornelia Schmergal. Auch in den Familien geht es um Organisation und Ökonomie: Organisation, weil der Alltag mit einem zu pflegenden Angehörigen kompliziert ist, Ökonomie, weil die pflegenden Angehörigen in der Regel große ökonomische Einbußen erleiden, wenn mit der größten Selbstverständlichkeit in Deutschland die Pflege und die Pflegebürokratie für aktuell 2,9 Millionen Bürger auf deren Angehörige und vor allem die ihnen nahestehenden Frauen abgewälzt wird. Ökonomie, weil Pflege teuer ist und weit über das hinausgeht, was die Pflegekasse ersetzt. Dass es in Skandinavien und den Niederlanden besser läuft, finde ich interessant und hätte darüber gerne mehr gelesen.

Die Thesen aus dem Teaser zu Fichtners Beitrag, Deutschland habe kein Konzept für das Leben in der überalterten Gesellschaft und die in den Raum gestellte Frage, warum das System der Altenpflege eine von Ökonomen erdachte Fehlkonstruktion sei, wären ein schöner Leitartikel geworden. (Ein besserer jedenfalls als Fichtners Leitartikel mit seinen fern jedes Realitätssinns vorgetragenen Weltmachtsgedanken in Zeiten, in denen es Deutschland nicht einmal schafft, eine Regierung zu zimmern – „Weltmacht wider Willen“ ist das ganz falsche Thema zum ganz falschen Zeitpunkt.) So bleiben die beiden Thesen leider im Raum stehen. Dabei gäbe es viel dazu zu sagen.

Das Familienbild und die sich daraus ergebenden Folgen sind inkonsistent. Die Kommunen weiten richtigerweise die Kinderbetreuungszeiten aus, damit Frauen berufstätig sein können, wenn es zum Pflegefall in der Familie kommt, gibt es keine Lösungen. Es gibt vielfältig Hilfsangebote für behinderte Kinder und Senioren, aber so gut wie keine, wenn Mitmenschen im Erwerbsalter durch Krankheit eine Behinderung erwerben. Wer springt ein, wenn kurzfristig Betreuungsbedarf für ein oder zwei Tage besteht, weil der Partner berufliche Verpflichtungen hat? Die Kurzzeitpflege fühlt sich erst ab mindestens einer Woche zuständig, oft gibt es einen Platz nur für vier Wochen am Stück.

Die Atomisierung der Familie wird in Zukunft dazu führen, dass der von der Gesellschaft zu erbringende Pflegebedarf weiter steigen wird. Wer als Gesunder feste Bindungen in Frage stellt, wird im Pflegefall kaum jemanden finden, der sich mit der Aufgabe belastet. Da ist der Klick bei Tinder einfacher als sich Gummihandschuhe anzuziehen und einen Hintern sauber zu wischen. Die gesellschaftliche, höchst politische Aufgabe wäre es, Strukturen zu unterstützen, die Familien, in welcher Zusammensetzung auch immer – man sagt so schön – den ganzen Lebenszyklus begleiten. Nicht nur beim Hereinwachsen ins Leben, sondern auch beim Ausscheiden und beim Abschied. Pflege eine Frage der Ökonomie? Ja. Denn wir müssen über den Wert von Dienstleistungen diskutieren, die am Menschen und von Menschen erbracht werden. Da gehören die Gehälter für Pflegekräfte ebenso zu wie die von Erziehern und Grundschullehrkräften.

Frank Dohmen und Dieter Hawranek berichten in „Das nächste Kartell“ über jahrzehntelange Absprachen bei den Einkaufspreisen für Stahl zwischen Daimler, BMW, VW und Bosch. Eine toll ausrecherchierte Geschichte im alten Stil.

Nicht bizarr, sondern handfest ist auch „Ultraschlank durchs „Schlupfloch“ über die Steuertricks des Gucci-Chefs Marco Bizzari.

Und zum Schmunzeln ist das Kurzinterview „Manchmal war der Trainer auch verpeilt“ mit dem ehemalige Handball-Nationalspieler Dieter (Jimmy) Waltke über den Handball-Weltmeister-Trainer Vlado Stenzel während der WM 1978, der mitunter bei Spielerwechseln den Überblick verlor.

Die mobile Version verlassen