Die Ceta-Krise hat eine Woche lang auch dem letzten EU-Bürger vor Augen geführt, dass etwas faul ist im „Staate“ EU. Im Leitartikel „Ein Eurodrama“ lästert Mathieu von Rohr über das Hin und Her bei der EU. Wieso? Für einen Wassertropfen gibt es bekanntlich kein größeres Erlebnis, als ein Fass zum Überlaufen zu bringen.
Protest aus vergangener Größe
Die Wallonie, die wenigsten werden vorher je von der Region gehört haben, obwohl sie im 19. Jahrhundert nach England die wichtigste Industrieregion der Welt war, erzeugte mit dem Ceta-Intermezzo bei minimalem Aufwand weltweit einen unbezahlbaren Schub an Bekanntheit. Von Rohr ist dieser üblichen Ansteckung verfallen, wonach Journalisten die Sichtweise derjenigen übernehmen, die sie (kritisch) beobachten sollen. Aus Brüsseler Sicht stören diese Unterlinge in den fernen Provinzen nur, die nicht verstehen können, was die Weisen an der Spitze für sie auf den Weg bringen. Vielleicht kommt der Unmut über Brüssel auch von dieser Art infantiler Arroganz, die sich ihrer tiefsitzenden Unprofessionalität nicht mehr bewusst ist.
Dass es ausgerechnet die Wallonen waren, die mit weniger als ein Prozent der EU-Bevölkerung den Machapparat in Brüssel aufhielten, ist ein nicht ganz verwunderliches Husarenstück. Proteste und Widerstand gegen Unternehmertum und Liberalität, kurz gegen alles, was das eigene Sozialmodell zu bedrohen scheint, sind seit Jahrzenten an der Tagesordnung einer Bevölkerung, die in Belgien für ihre Staatsgläubigkeit bekannt ist. Schade, dass die Wallonen nicht verstanden haben, dass die glorreichen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts so nicht wiederzugewinnen sind. Sie klammern sich an die Vergangenheit, die in der Gegenwart subventioniert wird, was in Zukunft nicht mehr zu finanzieren ist. Die Wallonie als ein Sinnbild Europas? Das wäre was gewesen, wäre da nicht ein simpler Korrespondent.
Den Wallonen verdanken wir es jetzt, dass der im Abkommen vorgesehene und die staatliche Souveränität beeinträchtigende Investorenschutz durch den Europäischen Gerichtshof überprüft wird. Wieder erschlägt der Glaube an den guten Staat pragmatische Lösungen. Wie Peter Müller in der Wirtschaftsstrecke in „Rechnung ohne Bürger“ schreibt, sollen es gar nicht die Kanadier sein, die sich an die Paralleljustiz für Investoren klammern, sondern die EU-Kommission selbst – als Vorbild für weitere Abkommen. Wer würde sich in einem Streitfall schon einem Gericht in Namur ausliefern wollen, könnte man bissig fragen.
Luther-Jahr und Luthers Simplifizierung in Fahrt
Morgen, am Reformationstag, startet die Evangelische Kirche mit Gottesdienst und Festakt in Berlin in das Lutherjahr. Das große Crescendo auf den Höhepunkt im kommenden Jahr nimmt seinen Lauf. 499 Jahre nach dem Thesenanschlag an die Wittenberger Schlosskirche – lassen wir einmal dahingestellt, ob sich der historische Vorgang genau so wie überliefert oder anders zugetragen hat – zeigt sich, in welchem Maße die Persönlichkeit Martin Luther das Leben nicht nur in Deutschland in den zurückliegenden Jahrhunderten geprägt hat und bis heute prägt.
SPIEGEL-Redakteur Georg Diez bezeichnet den Reformator in seinem Beitrag „Der erste Rebell der Neuzeit“ als „Erfinder der Deutschen“. Es wäre auch die inhaltlich richtigere Titelzeile gewesen. Mit der Vermarktung Luthers als „Wutbürger“ zeigt das Blatt, in welchem Maße ein Begriff, 2010 von Dirk Kurbjuweit erfunden, geschichtsvergessen ins Beliebige transferiert wird.
Die Titelgeschichte ist Auftakt zu einer fünfteiligen Serie, die sich laut Ankündigung „mit Martin Luther, seiner Zeit und mit der Kulturgeschichte des deutschen Protestantismus befasst“. Eine Startgeschichte kann immer nur das Themenspektrum anreißen. Hoffen wir, dass der Serie nicht dasselbe Schicksal zuteilwird wie vielen Serien zuvor: Starker Auftakt, schwache Fortsetzung.
Luther war ein Kind seiner Zeit. Reformation, also die Erneuerung, lag in der Luft, nicht nur die religiöse. Laut Marx sind es meist handfeste ökonomische Interessen, die in gesellschaftliche Verwerfungen münden. Die deutschen Fürsten registrierten damals mit Unmut, dass über den Ablasshandel eine gewaltige Menge an Kaufkraft nach Rom transferiert wurde. Luther läutete auch die wirtschaftliche Wende ein. Ein wichtiger Stein in der Erfolgsgeschichte des Protestantismus.
Die Marke Luther zieht bis heute. Im Zeichen des Lutherbooms beglückt die Firma Playmobil uns mit einer niedlichen Miniaturausgabe des Reformators. Erhält die Evangelische Kirche Deutschlands darauf Lizenzabgaben?
Renate Künast hat eine interessante Strategie gegen rechtspopulistische Angreifer aus dem Internet entwickelt. Schreiber herabwürdigender Posts konfrontiert sie in der realen Welt, indem sie ohne Vorankündigung einfach an der Haustür klingelt und die Schreiberlinge zur Rede stellt. Britta Stuff hat sie bei einigen Terminen begleitet und schreibt darüber im Beitrag „Die Heimsuchung“. Wenn das Schule macht … Jan Böhmermann sollte dann genau nachschauen, wer an seiner Tür klingelt.
Warnung! Gabriel kämpft für Sie …
Sigmar Gabriel kämpft jetzt um jedes deutsche Unternehmen. Die Leidtragenden sind die Aktionäre von Aixtron und Osram, die ihre Aktien trotz attraktiver Angebote aus China nicht veräußern durften. Dass das Ganze ökonomisch und strategisch wenig sinnvoll ist, wird von Michael Sauga und seinen Kollegen in „Großer Sprung“ recht lahm diskutiert. Zumal deutsche Unternehmen bisher recht positive Erfahrungen mit chinesischen Eigentümern machten.
Spaß macht der Beitrag „Dumm gelaufen“ von Ralf Neukirch, indem beschrieben wird, wie Horst Seehofer dem mit den Füssen scharrenden Parteifreund Markus Söder kurz und trocken demonstrierte, dass Söder noch nicht ausgelernt hat.
Interessant ist das Interview „Abgelenkt vom Kerngeschäft“ von Jan Friedmann mit Bildungsforscher Ulrich Trautwein über den Absturz von Baden-Württemberg im jüngsten Schulleistungsvergleich der Bundesländer.
Kerngeschäft, Entzauberung und Masse
Alexander Jung und Bernhard Zand verbreiten Angst und Schrecken. Im Beitrag „Im Beton-Wahn“ warnen sie vor einer Immobilien-Blase als Gefahr für die globale Konjunktur. Belegt wird das Menetekel nicht und zitiert werden ausschließlich weitgehend unbekannte Experten. Aber wie es halt so ist: Wenn es irgendwann doch runter geht, können Jung und Zand von sich sagen, dass sie bereits im Oktober 2016 gewarnt haben.
Nach Hugo Chavez in Venezuela scheiterte jetzt also mit Alexis Tsipras in Griechenland der nächste sozialistische Weltverbesserer. Wieder einmal lernen wir in „Die Entzauberung“ von Giorgios Christides und Kerstin Kuntz, dass wohlgemeint bekanntlich nicht wohlgetan sein muss
Heute lese ich in einem Mediendienst, dass Chefredakteur Klaus Brinkbäumer von der Redaktion eine höhere Produktivität erwartet. Die Marke SPIEGEL steht am Wendepunkt: Klasse oder Masse.