Nach drei Wochen Abstinenz tut die Lektüre des Spiegels gut. Das liegt in erster Linie am Hauptakteur der Titelgeschichte, Emmanuel Macron. In einem Parforceritt erklärt er im Spiegel-Gespräch mit Klaus Brinkbäumer, Julia Amalia Heyer und Britta Sandberg im Elysée-Palast den Zustand von Frankreich und Europa, dass einem schwindelig werden kann. Anregungen zum Nachdenken über den deutschen Blick auf den Nachbarn und die Europäische Union gibt es reichlich.
DER SPIEGEL ist sichtlich fasziniert von Macron; er ist der neue Hoffnungsträger. Das kann man verstehen, wenn man die abgewirtschafteten deutschen Spitzenpolitiker anschaut. Ja, da kann man neidisch werden. Dieser Faszination erliegt der SPIEGEL. Keine kritischen Frage zu 10 zusätzlichen Behörden, der Ausdehnung des EURO auf Länder, die ihn weder brauchen noch wollen, zum Ausbau einer Transferunion zu Lasten Deutschlands; kein ernstzunehmendes Wort zur zunehmenden Spaltung Europas in Ost und West. Wer SPIEGEL-Redakteure auf dem Bauch liegen sehen will – hier ist die Möglichkeit. Alles was scheint, scheint zu faszinieren.
Dass dies der Fall sein könnte, signalisiert bereits ein weiteres Spiegel-Gespräch „Engel, wir beide dienen Deutschland“ von Michael Sauga und Christoph Schult mit dem FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Der gilt in der sich abzeichnenden Jamaika-Koalition als Spitzenkandidat für die Schäuble-Nachfolge und gewinnt als möglicher künftiger Finanzminister Macrons Vorschlägen für den Umbau des ESM zu einem europäischen Währungsfonds gute Seiten ab: „Wir würden Investitionen vergemeinschaften – und nicht die Schulden“. Auch dies Interview ist lesenswert, liest man hier doch nicht nur die ewigen Politstanzen. Mal sehen, ob dieses Outing in der FDP und bei den deutschen Steuerzahlern auf breite Zustimmung stößt.
Dieter Degowski sei „Keine Gefahr mehr“, sagt dessen Anwältin in einem Nicht-Interview mit Jürgen Dahlkamp und Beate Lakotta. Wen interessiert das 30 Jahre nach der Geiselnahme von Gladbeck? Ein Nicht-Interview deswegen, weil keine echte News darin steckt. Nur der Anlass ist scheinbar spektakulär.
Ebenfalls nur scheinbar spektakulär ist auch Martin Hesses Beitrag „Verzettelt und verzwergt“ über den Zustand der beiden deutschen Großbanken Deutsche Bank und Commerzbank. Einzig richtig ist die Analyse, dass beide Häuser schon lange nicht mehr das sind, was sie einmal waren oder vorgaben zu sein. Dass aber ein Journalist den beiden Geldhäusern ihr Geschäftsmodell meint erklären zu müssen, zeugt von Selbstüberschätzung.
Gerne gelesen: Bernhard Zands Analyse über die Stimmungslage in Peking vor dem 19. Parteitag. Wie XI Jinping das Land regiert und den Macherhalt plant, ist zu lesen in „Chinas Macht-Maschine“.
Wie kann man Wasser sparen und gleichzeitig „grüne“ Energie gewinnen? Philip Bethge berichtet in „Die Kraft der Tröpfchen“ über eine ökologisch saubere Art der Energiegewinnung über die Verdunstung als Energiequelle.
Die „Schulz-Story“ des Spiegels muss heftigste Debatten ausgelöst haben. In das Ressort Kultur „abgeschoben“ hat die Redaktion die eigentlich politische Diskussion, geführt von zwei Seiten: Eva Menasse mit „Zwischen Schweigen und Pöbeln“ und Sascha Lobo, der das „Inszenierungsdesaster“ beschreibt. Während Lobo das Versagen in der SPD-Zentrale verortet, die keinen Ausweg aus der medialen Unmündigkeit gefunden habe, hat Menasse die „Schuldigen“ anderswo ausgemacht: bei anderen Medien (ich fühle mich gerade an die letzte Ausgabe erinnert), allen voran bei Ex-Spiegel-Kollege Gabor Steingart, der im Handelsblatt „vendettaartige Schmähungen über den Ex-Alkoholiker ohne Abitur“ ausgeschüttet habe. Jetzt muss mir mal jemand auf die Beine helfen: All die Elogen im Spiegel sollen weniger Durchschlagskraft gehabt haben als die Wirtschaftszeitung aus Düsseldorf? Ein interessantes Phänomen für Medienmacher und Kommunikationsinteressierte.
Denken wir kurz zurück an das Kommunikationsverhalten der Bienen: Nicht jede Kundschafterbiene findet Gehör. Wer zu oft Unsinn geplappert hat, wird von den fleißigen Arbeitsbienen einfach ignoriert.