Die AfD ist laut einer aktuellen Umfrage in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt bereits stärkste Partei. Erfahre ich im Spiegel, warum das so ist? Keineswegs. Und auch die im Teaser gestellte Frage: „Was tun mit einer Bewegung, die in Teilen den demokratischen Konsens aufkündigt?“, ist eher rhetorischer Natur. In der Titelgeschichte „Radikale Mitte“ stochern Melanie Amann und 15 Kollegen unsystematisch im Nebel und konstatieren, dass die AfD „zu einer neuen Volkspartei heranwächst“, die dann die Groko-Parteien CDU und SPD vom Sockel stößt.
Melanie Amann und Michael Sauga suchen im Gespräch mit dem früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert „Jähes Entsetzen“ nach den Ursachen für den AfD-Erfolg und sehen diese vor allem in dem unionsinternen Streit zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer um die „Flüchtlingspolitik“. Für Lammert tragen die Grünen einen erheblichen Teil Mitverantwortung: „Wenn es damals (zu Beginn der letzten Legislaturperiode; erg.) nicht wieder eine schwarz-rote, sondern eine schwarz-grüne Koalition gegeben und die SPD in die Opposition gekonnt und gemusst hätte, wäre dies für eine vitale parlamentarische Auseinandersetzung sicher besser gewesen, zumal bei den beiden großen Aufregerthemen der vergangenen Legislaturperiode, der Griechenlandrettung und der Migration.“
Der ursprünglichen Anti-Euro-AfD von VWL-Professor Bernd Lucke, die lange Zeit die hochriskante Griechenlandrettung einte, spielte, nachdem dieses Thema aus der tagesaktuellen Diskussion verschwunden war, der Totalausfall beim „Flüchtlings”-Krisenmanagement in die Hände. Denn anstatt an staatspolitische Ziele zu appellieren, thematisieren diese Politiker Verlustängste, verwiesen auf Verteilungskämpfe und schürten Neid. Und fielen damit bei denen auf fruchtbaren Boden, die sich abgehängt fühlten, für die das Minus auf der Gehaltsabrechnung und das Plus bei der Mieterhöhung schwerer wiegte als staatspolitische Ziele.
Eine Idee zum Politikumbruch liefert das Magazin in dieser Woche in dem Beitrag „Dreck and the City“. Darin beschreibt der New-Yorker-Redaktionsleiter Philipp Oehmke den neuen Typus in der US-amerikanischen Politik: die Disruptoren. Und meint damit Quereinsteiger in die Politik wie etwa die Schauspielerin Cynthia Nixon – in der Serie Sex and the City spielte sie die Anwältin Miranda Hobbes –, die ganz neue Vorstellungen davon hätten, wie Politik zu gestalten sei. „Disruptoren wollen über Jahrzehnte gewachsene politische Verbindungen aufbrechen, sie wenden sich gegen die Angehörigen der eigenen Partei …“
Der Aufstieg der AfD hält unserer satten (West-)Demokratie den Spiegel vor. Das blendet die Spiegel-Redaktion seit Jahren aus, eine Redaktion, deren Grundprogramm genau das sein sollte. All die Routine, das abgegriffenen Vokabular, die Unfähigkeit die Lebensrealität der Wähler zu erkennen und entsprechend in den Parteiprogrammen darauf einzugehen, das Erziehenwollen, die immer im gleichen Duktus gehaltenen Statements, wo man vorher schon weiß, was gesagt werden wird und was nicht, Alt-Parteien und deren Spitzenpersonal, die von Werbeagenturen und Coaches so gleichförmig zugeschnitten sind, dass die Wähler keinen Lebenssaft mehr in den Adern sehen. Die Titelgeschichte zitiert den hessischen Spitzenkandidaten der AfD für die im Oktober anstehende Landtagswahl, Rainer Rahn: „Die Stimmung spricht für uns, wir brauchen eigentlich gar keinen Wahlkampf zu machen.“
Jan Fleischhauer schreibt in seinem Kommentar „Peergroup-Politik“: Es gebe „gute Gründe für die Annahme, dass es den Aufstieg der AfD ohne die Kanzlerin nicht gäbe. Frau Merkel scheint das egal zu sein. Sie macht auch keinerlei Anstalten, AfD-Wähler zurückzugewinnen. Sie scheint sich zu sagen: Ein Teil der Leute ist durch mit mir, aber ich bin auch durch mit denen.“
Ich stieß neulich auf den Satz von Erich Fromm: „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man sich sehnt, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.“ Was bieten die Alt-Parteien den AfD-Wählern?
Manchmal kann auch Geld helfen. Denn staatliche Leistungen sind nicht nur geeignet, Zustimmung zu erkaufen (was immer wieder wohlfeil von vielen Seiten beklagt wird), vielmehr organisieren sie auch gesellschaftliche Teilhabe, wie Christian Reiermann in „Der Segen der Gießkanne“ ausführt.
In dem Beitrag „Freie Bahn für Erdogan“ berichten Dinah Deckstein, Maximilian Popp, Christoph Schulz, Gerald Traufetter und Severin Weiland, dass die Bundesregierung mit rund 35 Milliarden Euro das türkische Schienennetz sanieren will, weil angeblich drohe, dass ansonsten die Chinesen einsprängen und sich im Kaukasus festsetzten. Abwegig klingt das Ganze, wenn der Leser danach den Beitrag „Auf dem Abstellgleis“ von Tim Bartz, Christian Reiermann und Gerald Traufetter studiert, nachdem Bundesfinanzminister Olaf Scholz der Bahn für die dringend notwendige Digitalisierung und Sanierung die benötigten 5,6 Milliarden Euro verweigert. Irgendwo muss ja gespart werden – da spart Scholz anscheinend doch lieber zuhause.
Tim Bartz und Martin Hesse werfen einen Blick zurück auf die Pleite von Lehman Brothers vor zehn Jahren, die Folgen für die Weltwirtschaft bis heute und die Fehler von Politik und Banken in der Krisenbewältigung. „Die Amateure“. Lesenswert!