Tichys Einblick
"Radikal denken, entschlossen handeln – nur so ist die Welt noch zu retten."

DER SPIEGEL Nr. 27: „Globalisierung außer Kontrolle. Traut Euch!“

Weil G20 in Hamburg ist, macht das Hamburger Magazin - ist doch keine Lokalzeitung ? - einen saft- und kraftlosen Titel. Dabei gibt es genug spannendere Themen.

Oje, oje! Auch diese Woche geht im SPIEGEL wieder die Welt unter. Aber die Hamburger wollen sie mit einem radikalen Denken doch noch retten. Tun es aber so zahm, als ob sie selbst nicht daran glaubten. Das Cover tut ein Übriges: Das zähnefletschende Raubtier mit dem Erdball im Maul, den eine zarte Hand ohne Tatkraft wieder hervorholen soll. Besser kann man die kraftlose Titelgeschichte nicht illustrieren.

Dabei legen die groß gedruckten Lettern „Traut Euch!“ einige Themen nahe, die sich in den letzten Tagen ergeben hatten: Ehe für alle, die Koalitionspapiere aus Schleswig-Holstein und NRW beispielsweise. Ersteres verkürzt der SPIEGEL auf eine Merkel-Geschichte. Letztes findet nicht statt. Dabei hätte es doch durchaus einen spannenden Aufhänger gegeben: Unweit von Hamburg, in Kiel, will die neue Jamaika-Koalition – wie der schleswig-holsteinische Grünen-Chef Robert Habeck in der vergangenen Woche ankündigte – das bedingungslose Grundeinkommen für alle testen. Jetzt traut sich mal jemand, und es wird von Deutschlands größtem Nachrichtenmagazin verschlafen!

G20-Gipfel in Hamburg
SPIEGEL mobilisiert zur G20-Demo
Die Titelgeschichte entpuppt sich als weiteres G20-Thema. Den Gipfel vor der eigenen Haustür scheint der Redaktion übermächtig. Vor allem kann man da so schön wider den Stachel der Mächtigen löcken, wenn man sich auf die Argumentationsebene der Gipfelgegner begibt. In „Selbstbetrug mit System“ breitet Redakteur Alexander Jung in spiegeltypischer Selbstgefälligkeit und Geschwätzigkeit alles vor seinen wehrlosen Lesern aus, was das Archiv zusammengetragen hat. Die Lesart ist einfach: Die Bürger in den reichen Ländern sind schuld, weil sie falsch einkaufen. Die Unternehmen sind schuld, weil sie sich den Regeln des Finanzkapitalismus unterworfen haben. Die Politik ist schuld, weil man die Probleme in Afrika falsch eingeschätzt hat und weil den afrikanischen Staaten „Good Governance“ fehle, gemeint sind verlässliche Institutionen und rechtsstaatliche Prinzipien. Und dann gibt es noch gute Nachrichten, wie die Welt zu retten ist, zusammengefasst in dem Satz: Die Umsetzung beginnt im Kleinen, in der kommunalen Verwaltung. Denn das Radikale, das Große, liegt im Kleinen. Wow! Auf so viel Weisheit muss man erst einmal kommen, nach acht Seiten Anlauf.
Unverständlich ist, warum die China-Analyse „Neue Mitte“ von Korrespondent Bernhard Zand nicht als zum Titel zugehörig gekennzeichnet ist. Das passt wohl nicht ins geschlossene Weltbild der Titelgeschichte.

Dirk Kurbjuweit knöpft sich in seinem Leitartikel „Schluckaufpolitik“ Angela Merkels Politikstil vor. Der sei keineswegs, wie von Martin Schulz gesagt „ein Anschlag auf die Demokratie, aber ein Skandal und eine seltsame Art zu regieren“. Die Wortwahl sei deshalb töricht gewesen, weil sie den Kern verschleiere um den es gehe, nämlich nicht um das Ergebnis selbst, sondern um den Weg dorthin. „Merkel mache eine Politik, als wolle sie einen Schluckauf vertreiben. Sie überrascht, erschreckt. Ein Schlag aus dem Nichts. Das ist ihr Weg: Zum Stillen, Heimlichen, Unmerklichen gehört die plötzliche Ankündigung. Es gibt keinen sichtbaren Prozess, der zu diesen Ergebnissen führt, keine Rede, mit der Merkel einen Plan oder ein Projekt vorstellt, keine Debatte, mit der sie ihre Reformen vorbereitet. Sie kommen aus der Stille.“

Zudem verändere sie das Land „mit der postheroischen Methode: ohne sich mit diesen Veränderungen leidenschaftlich zu identifizieren.“ So weiß keiner mehr, wofür Merkel steht, „sie kann das eine vertreten, aber auch das andere: Das gibt ihrer Politik den Anstrich von Beliebigkeit.“ Merkel gelte als bescheidene Kanzlerin, aber auch bei ihr finde sich die Arroganz der Macht. Kann es sein, dass genau hier das Missverständnis in Bezug auf die Person Merkel liegt? Dass man ihr die Macht und damit auch die damit einhergehende gewisse Arroganz nicht zutraut? Anders als einem Kanzler Kohl, der schon qua Statur erhaben war über alle Zweifel, auch den, ein Machtmensch zu sein (von seinen machterhaltenden Netzwerken einmal ganz abgesehen), bis er selbst seine Macht untergrub? Angela Merkel zeigte zu dem Zeitpunkt bereits, zu was sie fähig ist. Sie war damals schon nicht und ist heute umso weniger die nette Pastorentochter, die vor sich hin forschende Physikerin im Elfenbeinturm. Merkel ist ein Machtmensch, so sehr am Machterhalt interessiert, dass langjährige Unionspositionen für sie nicht sakrosankt sind. Für Helmut Kohl war der konservative Wertekanon der CDU die DNA. Hier liegt der große Unterschied zwischen dem verstorbenen Altkanzler und der Bundeskanzlerin. Als er sich selbst ins Abseits manövrierte, gab er den Weg frei für eine andere Art von Machtpolitik, die – wie Kurbjuweit schreibt – stiekum daherkommt, also auf leisen Sohlen, nicht polternd wie ein Helmut Kohl. Für den Machterhalt der CDU verschiebt sie Positionen, auch so weit, dass die konservative Identität in ihrem Regierungshandeln kaum noch zu erkennen ist. Ob die CDU das auf Dauer aushält, ist nicht ihr Fokus.

Merkel - Eine kritische Bilanz
Die Sponti-Kanzlerin
Die Gefahr, die darin liegt, beschreibt Münchens Ex-OB Christian Ude im Interview „Vernachlässigt und verludert“ am aktuellen Beispiel Ehe für alle: „Merkel hat dem politischen Gegner die Munition nass gemacht. Das mag wahltaktisch klug sein, aber es sorgt auch für Politikverdrossenheit. Außerdem verliert die Anhängerschaft die Orientierung und auch die Bereitschaft, sich für einen Laden einzusetzen, von dem man nicht weiß, was er nächste Woche im Schaufenster hat.“ Es ist schon seltsam, dass ein Alt-SPDler wie Ude im SPIEGEL davor warnen muss, dass die CSUler die Orientierung verlieren.

Die Nachlese zum Tod von Altkanzler Helmut Kohl umfasst acht Seiten, fünf davon drehen sich um dessen Witwe. Das Gespräch mit Brigitte Seebacher-Brandt „Das steht ihr nicht zu“ über Maike Kohl-Richter zeigt den SPIEGEL in Boulevardblattregionen.

Jan Friedmann lobt in „Die Stunde der Pragmatiker“ die neue Bildungspolitik der baden-württembergischen Kultusministerin Susanne Eisenmann. Das Land, weit abgefallen in PISA- und anderen Tests, will künftig aus Fehlern lernen und holt sich nun ausgerechnet in Bundesländern Anregungen, auf deren Schulpolitik man vor nicht allzu langer Zeit noch süffisant herabgeblickt hat. Das Lernen soll künftig stärker von der Wissenschaft begleitet werden. Ob die Verwissenschaftlichung des Lernens allerdings der Königsweg ist, mag bezweifelt werden. Schon sind die vielen Vergleichstests in die Kritik geraten; deren Aussagekraft wird stark überschätzt. Von anderen lernen, ist sicherlich gut. Die Qualität des Lernens in der Grundschule damit zu verknüpfen, dass das Studium zum Grundschullehrer an einer Universität erfolgt und nicht wie bisher an einer pädagogischen Hochschule, verstellt den Blick auf die wirklichen Notwendigkeiten. Das Verschieben auf die Universität führt zunächst einmal in eine höhere Gehaltsstufe, was den Beruf vielleicht für solche attraktiver macht, die sich durch schlechte Bezahlung haben abhalten lassen. Pädagogik überzeugt dann am besten, wenn Inhalte überzeugen und Werte glaubhaft vorgelebt werden. Wenn Schüler und Eltern Wertschätzung für Lerninhalte und die anvertrauten Schüler im wahrsten Sinne des Wortes erleben, dann wird Lernen als etwas Positives begriffen. Überall dort, wo das gelingt, ist Schule für alle Seiten in guten Händen – unabhängig davon, an welcher Institution eine Lehrerausbildung erfolgte.

Weitere Themen im Heft: Das unfassbare Behördenversagen im Fall Anis Amri „Ich bin ein Terrorist, haha!“. Zum Thema ,Ehe für alle‘ das SPIEGEL-Gespräch „Der Vater, ein Mutter-Imitat“ mit der Psychologin Inge Seiffge-Krenke über die unterschiedlichen Rollen der Elternteile und neue Männlichkeitsbilder. Martin Hesse und Christian Reiermann in „Ein spezieller Kunde“ über die Beziehung zwischen Donald Trump und der Deutschen Bank. Maximilian Popp rekonstruiert die Vorgänge rund um den Putsch gegen den türkischen Präsidenten Erdoğan. Philip Bethge über die neuen nuklearen Arsenale der Atommächte und die Verführung durch den Glauben an neue Technologien („Mehr Wumms“).

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