In der Medienkrise sparten die Verlage zuerst an den Reisekosten, so dass die Redakteure nur noch wenig Gelegenheit erhielten, ferne und attraktive Metropolen zu erkunden. Anders kann man sich nicht erklären, dass Hamburg zu einer Metropole verklärt wird.
Botox und Brandsätze für Hamburg
Hamburg sei, so lese ich, die größte Stadt in Europa, die noch nie weder Hauptstadt noch Residenzstadt war. Mag sein. Aber was besagt das? Metropole war Hamburg nie. Residenzstadt? Das entspricht nicht dem kaufmännisch-bürgerlichen Selbstverständnis der Stadt an Elbe und Alster. Und seien wir ehrlich: Die Grundlagen in der Ausdehnung, wie wir sie heute wahrnehmen, und mit dem Namen „Hansestadt Hamburg“, ist ein Konstrukt aus den Jahren 1937/1938. Hamburg war immer eine Handels- und Industriestadt. Konsequenterweise hat Hamburg die Rolle der kultur- und identitätsstiftenden Bürger- und Kaufmannsgesellschaft immer mit größtem Selbstverständnis gepflegt, das Attribut von und zu spielt kaum eine Rolle, obrigkeitliche Ehrungen wie Orden werden von gestandenen Hanseaten verschmäht. Das macht sie sympathisch. Warum sie jetzt aufdonnern mit viel geschriebenem Silikon und Botox für die schmalen Lippen?
Das Zusammentreffen von G20-Gipfel, sich wandelndem Schanzenviertel und die neue Liebe zu der vor ihrer Fertigstellung so angefeindeten Elbphilharmonie bringen Hamburg noch nicht auf Augenhöhe zu Berlin, auf das man so lange naserümpfend herabgesah; ja, Berlin gilt mittlerweile weltweit als cool. Dass sich die vereinigte linke Extremistenszene beim G-20-Gipfel wieder einmal Steine und Brandsätze werfend inszenieren dürfte, wird den Ruf Hamburgs sicher nicht verbessern. Was eine Stadt erwartet, wenn die „Herrscher“ der Welt samt ihrer Entourage einfallen, haben andere Städte und deren Bewohner auch schon erlebt – bis dahin, dass sogar punktuell Obrigkeitsrechte an US-Institutionen abgetreten werden mussten. Da fehlt etwas beim SPIEGEL: Die Analyse, dass Brandsätze von linken Gruppen zur Jugend-Kultur zählen, dass komische Sprüche von Attac bis zu den Grünen als Politik wahrgenommen werden. Bislang hat mich kein Wort überzeugt, das gegen das Zusammentreffen von Politikern vorgebracht wurde. Kritik an Beschlüssen ist unbedingt gerechtfertigt, aber an einem Treffen an und für sich? Aber da müsste der SPIEGEL sich ja mit den Organisatoren mal gründlich auseinandersetzen, denselben, die vorher schon mal Frankfurt flächendeckend verwüsten wollten. Und möglicherweise käme dann der Grundsatz ins Wanken, dass „Rechte“ gewalttätig sind – während es tatsächlich und demnächst wieder offenkundig linke Gruppen sind, die ihren Phantasien von Neoliberalismus bis Genderismus Steine und Mollis hinterherwerfen. Denn nicht die Besucher sind es, die die Bürger in Hamburg belasten, sondern die notwendigen Schutzmaßnahmen angesichts rot-grüner Spinner mit Steinen und Brandsätzen für Hamburg. Aber vielleicht kommt es ja noch, wenn auch die SPIEGEL-Redaktion mal ein paar Fensterscheiben eingeschlagen kriegt und die Gewinnbeteiligung wieder sinkt.
Von der Kritik der Nabelschau einmal abgesehen (hätte es keine wichtigeren Titelthemen gegeben?): Die zum Titel gehörenden Geschichten „Einschlag ins Kontor“, „In Flammen“ und „Chancenviertel“ sind gut erzählt.
Stegner, der neue Liebling?
Nicht nur für Musikkenner und -liebhaber lesenswert ist das Interview „Es geht immer um alles“ mit dem Dirigenten Ingo Metzmacher, der viel Getue erfrischend relativiert.
Wird jetzt Ralf Stegner zum neuen SPD-Liebling der SPIEGEL-Redaktion, nachdem sich der Heiligenschein, der Martin Schulz vom Magazin aufgesetzt wurde, als allzu flüchtig herausgestellt hat? Martin Schulz, in dessen Kanzlerkandidatenbuch „Was mir wichtig ist“ Christine Hoffmann „Abends im Hotel“ einiges Optimierungspotenzial entdeckt hat. Zu Vieles, das der Leser schon aus Interviews und Magazinartikeln kennt, zu viel kandidatenunabhängiges Standardvokabular. Zurück zu Ralf Stegner, der wegen seines missmutigen Mienenspiels in der Präsidiums-Background-Group hinter den jeweiligen Wahlverlierern in den vergangenen Wochen des Öfteren Gegenstand hämischer Kommentare wurde. Marc Hujer und Michael Sauga lassen den SPD-Parteivize im Interview „Man muss nicht jedem gefallen“ zu Wort kommen. Gut zu lesen das Gespräch über Theatralik in der Politik, Wehner‘sche Leidenschaft, und schleswig-holsteinische Standfestigkeit gegen Rücktrittsforderungen: „Ich muss nicht jedem gefallen. Das ignorier ich nicht mal. Wer das nicht aushält, darf nicht Politiker werden“.
Da hat er ja Recht. Aber sicherlich ist er die Geheimwaffe der CDU in der SPD. So viele Wählerstimmen wie Stegner hat keiner sonst auf dem Gewissen. Er schafft es, die SPD auf unter 20 % zu drücken, ganz alleine. Ist das auch Merkmal für einen Politiker, oder schiere Dummheit? Und wer Stechers Pöbeleien verfolgt der entwickelt Sympathie für das generelle Verbot von Hass und Hetze im Internet, denn das und nur das war bislang Stegners Beitrag zur politischen Kultur: Spaltung und Verhetzung der Bürger. Aber so weit reichen die Fragen im Interview nicht. Es ist wie mit Hamburg und seinen Steinewerfern: Die Schärfe der Kritik hängt vom Standpunkt des Beschriebenen ab.
Uber-ambitioniert
Sehr informativ finde ich den Beitrag „Uber-ambitioniert“ von Thomas Schulz. Offensichtlich sind Charaktere wir Donald Trump keine Ausnahme in den USA. Wie Travis Kalanick Uber zu einem Konzern mit 12.000 Mitarbeitern und 6,5 Milliarden Dollar Jahresumsatz formte, macht Angst: Politiker und Mitarbeiter werden belogen, Mobbing und sexuelle Belästigungen sind an der Tagesordnung. Es darf nicht sein, dass in der Digitalisierung von Geschäftsmodellen diejenigen, die sie umsetzen, die Menschen, nur noch als „Dinge“ wahrgenommen werden. Das erinnert an schlimmste Goldgräberzeiten, in denen alles erlaubt war, was Erfolg versprach. Fast sollten wir Herrn Kalanick dankbar dafür sein, durch seine Hybris überdeutlich gemacht zu haben, welche Chancen und Risiken in der Digitalisierung liegen und welche gesellschaftspolitischen Aufgaben auf eine zeitgemäße Tagesordnung gehören.
In „Bitte bellen sie leise“ vergießen Rafael Buschmann und seine Kollegen bittere Tränen über die Pressekammer am Landgericht Hamburg, die bisweilen den Mitteilungsdrang der Hamburger Redakteure bremst und es unterband, dass der SPIEGEL über Cristiano Ronaldo und Mesut Özil alles veröffentlichen durfte, was er zusammengetragen hatte. Ich finde den Bericht deshalb bemerkenswert, weil die Pressekammer des Hamburger Landgerichts seit Jahrzehnten als beste Anlaufstelle für diejenigen gilt, die missliebige Berichterstattung verhindern wollen. Ich hatte schon Mitte der 1990er Jahre eine Menge Arbeit damit, die Urteile der Kammer gegen das Nachrichtenmagazin FOCUS im Fall der Mody-Bank zu erschüttern. Aufwändig, aber letzten Endes erfolgreich.
Es lohnt sich zu kämpfen, statt leise zu weinen. Eine Rechtsabteilung hat der SPIEGEL ja noch, auch wenn man nicht mehr reisen darf.