Spiegel Resterampe wäre auch eine gute Überschrift gewesen. Denn was das Blatt zum Anfang des Jahres bietet, ist schwach. Kaum Aktuelles und noch weniger von Gewicht, dafür aber gerne weltverbesserisch.
Weil politische Themen weitgehend fehlen, wird die Genderdebatte („Was bin ich?“) durch die Positionierung ganz am Anfang des Blattes, statt im Ressort Gesellschaft, zu einem politischen Thema erhöht. Was soll das? Vor allem, wenn man dann spaltenweise mit Altbekanntem über Gendermarketing – lasen wir vor einigen Monaten schon einmal im Spiegel – belehrt wird, das doch verboten gehöre. Ja, wir normieren gerne, wir verbieten gerne. Das passt zum Spiegel. So wird ein menschliches Thema zum Normierungs-, Ge- und Verbotsthema. Natürlich hat der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Folgen für die Gesetzgebung. Da ist einzig und allein der Beitrag „Männlich – Weiblich – Anderes“ von Melanie Ammann hilfreich, der diesen Aspekt zusammenfasst.
Immer noch der Spiegel-Liebling: Sigmar Gabriel. Der geschäftsführende Außenminister plauderte für das Spiegel-Gespräch „Eine Welt von Fleischfressern“ mit der stellvertretenden Leiterin des Hauptstadtbüros, Christiane Hoffmann, und Chefredakteur Klaus Brinkbäumer in seiner Heimatstadt Goslar über den zunehmenden Einfluss Chinas auf Südost-Europa, die deutsch-türkischen Beziehungen, Waffenlieferungen an die Türkei und europäische Ziele in einem möglichen Koalitionsvertrag. Welchen Wert das Interview hat, wird sich erweisen, wenn es tatsächlich zu Koalitionsverhandlungen zwischen der CDU/CSU und der SPD kommt. Der Spiegel als Steigbügelhalter für eine SDP nach Schulz? Gabriel jedenfalls wehrt sich nicht.
Anders als die Spiegel-Redaktion („Die Wutbürger“), findet Gabriel es schwierig, die Lage im Iran zu beurteilen.
Dass die globale Textilindustrie in Sachen Nachhaltigkeit immer noch viel aufzuholen hat, ist nicht neu. Weil sich die Modeindustrie einer notwendigen Debatte „über die materielle und emotionale Haltbarkeit von Kleidung“ verweigere, fordern die Autoren Philip Bethge, Laura Höflinger und Simone Salden in „Heute Trend, morgen Müll“, dass jetzt die Verbraucher die Initiative ergreifen und sich dem Konsum versagen sollen. Na wunderbar! Wieviel ist denn erlaubt? Und was? Aber die Verbraucher seinen schon auf dem besten Weg, berichtet der Spiegel. H&M erlebe gerade einen Shitstorm, weil der Konzern in Dänemark 12 Tonnen Kleidung jährlich verbrenne. Was für Maßstäbe! 12 Tonnen Kleidung haben einen Wert von 1.200 EUR. Schöne neue Spiegel-[Be]Kleidungswelt: Machen wir ernst, verbieten das Gendermarketing und erlauben nur noch Einheitskleidung. Dann erübrigt sich jeder Kaufanreiz, und die Nähmaschinenindustrie wird einen Aufschwung erleben.
Sehr viel differenzierter geht der Chef des Uno-Entwicklungsprogramms UNDP, Achim Steiner, im Spiegel-Gespräch „Wachsen – aber anders“ die Themen Wachstum, Nachhaltigkeit und „Green Economy“ an. Im Zentrum stehen allerdings die Themen Hunger- und Armutsbekämpfung, (strategische) Entwicklungsfinanzierung und die Uno-Klimaziele.
Gefreut hatte ich mich auf den Beitrag „Dumm wie ein Sieb“ über künstliche Intelligenz (KI). Aber mehr als die Botschaft, dass künstliche Intelligenz per se erst einmal gar nicht intelligent ist, kommt leider nicht dabei herum. Zu KI gäbe es sehr viel mehr Substanzielles zu sagen, sehr viel Differenzierteres. KI hat mit Vorstellungen aus Science-Fiction-Filmen wie „Her“ oder „Es Machina“ nichts zu tun. Anwendungsgebiete wie Schach oder Go sind Nettigkeiten im Vergleich zu dem, was in der Industrie gerade passiert.
Kuhstall in der Wüste: Ein Ire hilft den Kataris, in der Wüste einen Hightech-Kuhstall aufzubauen, um auch in Zeiten des Embargos die Bevölkerung mit Kuhmilch versorgen zu können. Wie Bernhard Zand in „Vollmilchbomber“ beschreibt, gelingt das nur begrenzt, weshalb das Produkt zumeist mit Schaf- und Ziegenmilch gestreckt wird.
In Nordkorea ist neuerdings das Plündern Staatsziel. Das Regime hat einen Wirtschaftskrieg angezettelt, der unter all den Raketendrohungen lange versteckt blieb. Um das wirtschaftliche Überleben zu sichern, werden – so zu lesen in „Die Räuber“ – Banken und Bitcoin-Börsen geplündert, wo immer sich eine Schwachstelle auftut. Erschreckend sei, wie weit die technologischen Fähigkeiten ausgeprägt sind.
Man muss schon viel Standvermögen haben, um sich im aktuellen Heft bis zum Essay „Uns fehlen die Träume“ von Georg Dietz vorzuarbeiten. Dafür wurde ich aber belohnt. Es geht um Träume und Wirklichkeit, um Zusammenhänge und Neujustierung von Gewissheiten, darum, „angesichts der Krise des Alten die Gestalt des Neuen zu erkennen.“