Es ist so lange her, dass ich den SPIEGEL in Händen hielt, da fällt mir haptisch als erstes auf: dünn ist er geworden. 130 Seiten, Rückenstärke 0,5 cm geschätzt. Hans-Peter Canibol macht Pause. Also heute ich. Und als ich durch bin, registriere ich, nicht nur äußerlich ist das Kaliber dünn des einstigen Sturmgeschützes. Geht bei den Redakteuren Resignation um?
Das Cover passt zur Titelstory „Zuckerbergs Zweifel“ (Seiten 12 bis 21). Sie beginnt mit einer bewundernden Beschreibung von Zuckerberg, die eine Verwandlung vom „unsympathischen Nerd“ zum „in jeder Faser, ein Anführer, jetzt“ beschwört. Die ganze Geschichte erzählt viel, über Facebook, Airbnb und künstliche Intelligenz (KI). Algorithmen, erfahren wir, „verstehen keine Ironie, erkennen nicht, was nur Zitat ist“ (aha: „nur Zitat“ ist nicht so schlimm wie Eigenaussage, Facebook kämpft mit Algorithmen).
Ist der technologische Fortschritt nun weiter Segen, wie das Erste Gebot in Silicon Valley sagt, oder auch Fluch, wie dasselbe Valley nun nach Trump angeblich plötzlich zweifelt? Zusammenhangsloses Erzählen mit der verblüffenden Erkennntnis: „Politische Antworten müssen schneller gefunden werden … Es müssen politische Instrumente her, um den Wandel zu gestalten, denn zu stoppen ist er nicht.“ Was kommt jetzt, fragt sich der Neugierige. Sie glauben es nicht, der ganze Wortberg gebiert am Schluss ein Mäuslein: die Robotersteuer (unter Berufung auf Bill Gates). Das hätte sich auch in Tweetlänge sagen lassen. Tja, was war das jetzt? Vielleicht, was zu Beginn vor der „Anführer“-Beschwörung steht: „Seifenoper? Therapiegruppe?“
Einmal quer durch
Der Leitartikel von Klaus Brinkbäumer „Die Dreckschleuder“ über Trumps Klimapolitik, die gleichzeitig „gar nicht so schlimm“ ist, weil Kalifornien und China anderes tun, „und trotzdem fürchterlich“: Gesinnung statt Besinnung.
„Grün für die Ampel“ beginnt damit, dass Karl Lauterbach nun keine neuen Runden mehr organisert, bei der Vertreter von SPD, Linkspartei und Grünen zum Weintrinken zusammenkommen zur Verbesserung des Klimas unter künftigen Bündnispartnern. Weil die SPD ihre Politik korrigiert? Nein, weil Martin Schulz vor der Fraktion gesagt hat: „Öffentliche Debatten über Rot-Rot-Grün sind schädlich.“ Lauter Überzeugungstäter.
Im SPIEGEL-Gespräch mit Gerhard Schröder, warum Martin Schulz es schaffen kann: „Er will es“. Der Altkanzler formuliert, als wäre er noch im Amt, abgewogen, abgerundet, einen kleinen Verweis steckt der Spiegel brav ein. SPIEGEL-Gespräch? Das waren mal Highlights. Das hier ist Gerhards Gute-Nacht-Geschichte. Aber dreimal so unterhaltsam wie Seehofer gegen Söder und Merkels Altmitarbeiter Joachim Koschnicke, der von seinem Ausflug zu Forsa und Opel in die Lobby der CDU zurückkehrt.
„Verstörende Gedankenwelt“ berichtet von den Beschimpfungsgebräuchen auf Internetseiten wie „Osmanische Generation“ und „Muslim Mainstream“ oder „Unchained New Turkey“ und „Stolz der Türkei – R. T. Erdogan“. Na da geht’s im deutschen Facebook und Co. ja geradezu zahm zu. Cem Özdemir heißt dort „Götdemir“ – Göt bedeutet „A****“, „Hurensohn“, „ehrloser Bastard“.
Das zweite SPIEGEL-Gespräch – „Die Wähler sind Hobbits“ – gibt dem US-Philosophieprofessor Jason Brennan doch glatt mehr als zwei Seiten, um seine Idee, Ungebildete (bei Brennan 75%) vom Wählen auszuschließen, nicht wirklich zu erklären.
„Im Lesen war ich super“, noch ein SPIEGEL-Gespräch. – mit Martin Schulz, der von seiner Buchhändler-Lehre erzählt, wo er lernte, „eigentlich sind wir wandelnde Klappentexte„. Ja dann.
„Achleitners Doppelspitze“ über zwei Neue im Vorstand der Deutschen Bank? Nichts, was man in der Frankfurter Fressgass und in Sachsenhausens Kneipen nicht auch hören könnte.
Cristian Esch über Alexej Nawalny und Russland vor dem Ende der Amtszeit von Wladimir Putin – „Aufgewacht“: lesenwerte Geschichte über neue Bewegung in der Jugend des neuen Zarenreiches.
Hochinteressanter Blick nach Afrika: „Ein Mädchen gegen neun Kühe“. Wie bei den Kuria im Norden Tansanias eine alte Stammestradition erwacht: Ehehschließungen zwischen Frauen, die Witwen sind oder von ihren Männern verlassen wurden, also nicht, weil sie lesbisch sind. Auf diese Weise erwerben sie das Recht, selbst Besitz zu haben. Nun breitet sich diese Möglichkeit unter jungen Frauen aus, die sich erst gar nicht in die Abhängigkeit von Männern bringen wollen.
Und die dritte Story, die mich mit der Arbeit versöhnt, den dünnen SPIEGEL gelesen zu haben: „Ein Trump in jeder Familie“. Philipp Oehmke erzählt vom Buch, das J. D. Vance über das weiße Prekariat der U.S. geschrieben hat, und das jetzt auf Deutsch erscheint: „Hillbilly-Elegie“. Was der Autor über den Niedergang von Middletown bei Cincinatti zu berichten weiß, erklärt mehr als all die Oberflächengeschichten über Trumps Durchmarsch gegen den Willen der Republican-Elite. Das Buch werde ich lesen, aber besser im Original. Vance war 12, als er vor Gericht für seine Mutter log, damit sie nicht ins Gefängnis geht, aber da war noch ein anderer Grund, schreibt Oehmke: “ … zum ersten Mal verspürte er ein Gefühlt von Identität. Die und wir.“:
„In dem Gerichtssal waren noch fünf oder so andere Familien, von denen jemand angeklagt war. Die sahen alle aus wie wir. Jogginghosen, Leggings und ausgeleierte T-Shirts, die Haare ein bisschen fettig. Und dann waren da die, die unser Schicksal unter sich ausmachten: die Richter, Anwälte und Sozialarbeiter. Sie trugen Anzüge, klar, aber sie redeten vor allem anders. Sie sprachen wie die Nachrichtenansager im Fernsehen. Für mich war das keine echte, sondern Fernsehsprache.“