SPIEGEL-Autor Jörg Blech hat ein neues Buch geschrieben und darf es als Titelgeschichte vermarkten. Notabene: Mit der Autorenvermarktung ist der SPIEGEL großzügig, sehr viel großzügiger als andere Medien. Die Thesen aus der Titelgeschichte „So schmeckt die Zukunft“ sind nicht neu: Modernes Essen macht krank, die Bösen sind die aus der Nahrungsmittelindustrie, die mit ultraverarbeiteten Lebensmitteln die Menschen verführen und Studien in ihrem Sinne (um-)interpretieren, Abnehmen ist möglich, Diäten helfen dabei nicht, und man kann sich tatsächlich gesund ernähren, ganz einfach, die Italiener machen es vor.
Das alles haben wir schon zur genüge gelesen. Natürlich findet sich immer wieder die eine oder andere neue Studie, die etwas belegt. Die selbstkochenden SPIEGEL-Leser werden die acht Seiten ohne nennenswerten Gewinn überfliegen, die Bringdienst-Köche, Tütenaufreisser und Mikrowellenknopfdreher werden es eher bleiben lassen. Die Anuga als Ort des Ernährungshorrors hinzustellen, zeugt von Naivität. Die Messe versteht sich nicht als Bauernmarkt, dafür gibt es die „Grüne Woche“.
Man muss nicht zu einer Messe der Nahrungsmittelhersteller fahren, um den Trend zu erkennen, und man muss auch zur Veranschaulichung des Textes keine Bilder aus amerikanischen Supermärkten mit einer italienischen Markthalle konfrontieren. Beides findet man in Deutschland – noch, denn die Wochenmärkte werden zumnehmend zu Rentnermärkten. Andererseits wird bei jedem Supermarkt, der von den großen Einzelhandelsfirmen neu eröffnet wird, besonders zu beobachten bei REWE, EDEKA und REAL, die Fläche für industriell gefertigte oder veredelte Lebensmittel zunehmend größer, die Flächen für Grundnahrungsmittel schrumpfen auf ein Minimum, so dass man sie in dem Überangebot all der anderen Waren kaum noch findet. In Stadtteilen, in denen viele junge Familien mit kleinem Geldbeutel und Singles wohnen, sind die Wände rundum mit (Tief-)Kühlschränken zugestellt, ein Fertiggericht neben dem anderen, in unzähligen Varianten und: alles „clean“. Wer hier zugreift, interessiert sich nicht für Kartoffelchipstudien an Ratten.
Dass mediterrane Kost eine ausgewogene Ernährung bietet, ist nicht neu, insofern liegt man mit der Empfehlung nie falsch. Ausgeblendet werden von Herrn Blech im Beitrag aber andere Ernährungsweisen, etwa die asiatische. Wikipedia listet unter den 100 ältesten Menschen der Welt 10 Menschen aus Südeuropa (Frankreich inklusive, das nur im Süden in das Raster fallen würde, die Ernährungsweisen in anderen Landesteilen, gehören schon nicht mehr dazu), mehr als doppelt so viele kommen aus Japan; der größte Teil aus Nord- und Mittelamerika.
Dennoch: Nach Lesen der Titelgeschichte genoss ich mit Wohlbehagen ein leckeres, von meiner Frau frisch aus Grundnahrungsmitteln zubereitetes Spaghetti Carbonara. Ich hatte schon damit geliebäugelt, kurzfristig auf Steinzeitdiät umzusteigen. Trotz Lockrufen ließ sich partout kein Wollhaarnashorn blicken.
Zur Politik im aktuellen SPIEGEL: Kaum „verlor“ Geert Wilders in den Niederlanden die Wahl, phantasiert Ulrich Fichtner im Leitartikel „Volkes Stimme“ rasch aus der Hüfte geschossen seine Hoffnung auf das Ende des populistischen Zeitalters. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Schnellschuss.
Siegmar Gabriel – befragt (Interview „Wir pöbeln nicht zurück“) zum Verhältnis Deutschlands zur Türkei – denkt, wenn er Bilder von den Wahlkampfveranstaltungen der Türken sieht, zuerst daran, dass man es nicht geschafft habe, den langjährig im Land lebenden Türken die doppelte Staatsbürgerschaft anzubieten.
Wenn sich der Spiegel im Beitrag „Ein bisschen Frieden“ nicht um eine mögliche Liaison Oskar Lafontaine und Martin Schulz drehen würde, wäre der Wahlkampf an der Saar kaum von Interesse.
René Pfister und Britta Stuff versuchen mit „Im Kartenhaus“ eine Annäherung an die Person Angela Merkel. Die These: „Im zwölften Jahr ihrer Kanzlerschaft ist Angela Merkel fast hinter ihrem Amt verschwunden. Im Wahlkampf gegen Martin Schulz könnte das ihr größtes Problem werden.“ Sie beschreiben Merkels persönliches Sicherheitsbedürfnis, das dazu geführt hat, dass sie inzwischen wie in einem Kokon lebt, teils physisch, teils psychologisch, dass sie nur wenige Menschen an sich heranlässt und all die schnell fallen lässt, die mit der Nähe zu ihr punkten wollen.
Eine interessante Beschreibung, wie Verantwortung einen Menschen verändern kann. Es ist weniger die Macht, als die Position. Ist das so ungewöhnlich oder gar verwunderlich? Wer mit Vorständen und CEOs privat verkehrt, erlebt auch dort die Einsamkeit der Macht. Was Pfister und Stuff nicht thematisieren, ist die Frage, inwiefern die Erziehung in einem protestantischen Pfarrerhaushalt bei Merkel das Phänomen möglicherweise verstärkt. Das Verschwinden als Mensch hinter der Aufgabe ist in evangelischen Pfarrerfamilien über Jahrhunderte tradiert, merkt dazu meine Frau an, die es aus eigenem Erleben kennt und Merkels Verhalten aus diesem Erleben heraus sehr gut nachvollziehen kann.
Wie Brigitte Zypries die Dominanz von Google, Facebook & Co. brechen will, bleibt mir nach der Lektüre von „Der dritte Weg“ unklar. Immerhin kann sie dankbar sein, dass sie als Neu-Wirtschaftsministerin eine Studie vorstellen darf, mit deren Machbarkeit sie sich wahrscheinlich nie wird befassen müssen. Typisch sozialdemokratisch: Man braucht eine „digitale Ordnungspolitik“ und eine neue Behörde soll es richten.
Mit „Unternehmen Weltspitze“ zeigen Martin Hesse, Armin Mahler und Ann-Kathrin Nezik, dass auch hierzulande die Wirtschaft innovativ ist und entlarven den Protektionismus à la Zypries. Es braucht allerdings noch mehr Unternehmerpersönlichkeiten wie Susanne Klatten, die als verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Investoren den Boden für Innovationen bereiten. Jetzt im beginnenden Wahlkampf verplempern Ministerinnen wie Zypries, aber auch Andrea Nahles das Geld lieber für stimmenträchtigere Projekte, die aber die Wirtschaft hierzulande nicht nach vorne bringen.
Katja Timm hat drei Jahre lang Menschen in der Charité begleitet. Da kommt die Gelegenheit, parallel zum Anlaufenden des Mehrteilers in der ARD ein Portrait zu liefern. Ich hätte mir in Ergänzung zum Charité-Panorama eine Einordnung der Berliner Institution in die Kliniklandschaft Deutschlands gewünscht. Das wäre ein echter Mehrwert gewesen, so ist es eine Berliner Geschichte.
Welch Überraschung: Der Schweizer Jean Ziegler versucht auch im hohen Alter von 82 unverdrossen, den Sieg des Kapitalismus zu verhindern. Nils Klawitter interviewt in „Wir sind gescheitert“ den seit den 1960er Jahren bekannten Globalisierungskritiker und einstigen Spezi von Che Guevara. Sein Pech: Der Kapitalismus hat bereits gewonnen, da die 500 größten Privatkonzerne bereits 52,8 Prozent des Weltsozialprodukts kontrollieren. Kommentar von Ziegler: „Wir sind in der Endphase des Klassenkampfes.“ Und: „Ein Revolutionär geht nicht in Rente.“ Ach, herrje.