Nach der herben Kritik am dekadenten Titel der Vorwoche schreibt der Chefredakteur einen Leserbrief – an sein eigenes Blatt, also an sich selbst. Peinlich, peinlicher, SPIEGEL.
Nachdem das Kind bei dem tumultartigen Verlauf des HamburgerG20-Treffens in die Fleete gefallen ist, werden nicht nur der Regierende Bürgermeister Olaf Scholz, sondern auch der Polizeipräsident von Hamburg und der Chefredakteur des SPIEGEL von Reue übermannt. Im christlichen Europa gilt von alters her die Regel: Wer reuig nach Canossa kommt, dem wird verziehen. Jedenfalls bat Scholz die Hamburger um Entschuldigung für organisatorische Pannen und verlorene Kontrolle.
Martin Schulz, Deutschlands Möchtegern-Kanzler, blieb wieder einmal weit weg von Hamburg, dem Ort, wo die Bürger ihn in diesen Tagen wirklich gerne gesehen hätten. Wer Wahlkämpfe gewinnen will, agiert anders. Ralf Martin Meyer, Hamburgs Polizeipräsident, konnte die Bürger in Schanzenviertel und Schulterblatt jedenfalls nicht mehr schützen, da laut
Spiegel selbst top trainierte Polizisten sagten, da gingen sie nicht rein. Dienstverweigerung von Polizisten? Gab es so etwas überhaupt schon mal? Im
Spiegel wird jedenfalls diese Frage nicht thematisiert. Stattdessen erfährt der Leser, dass im Schanzenviertel Ex-RAF-Terrorist Karlheinz Dellwo nicht unzufrieden sei mit dem Verlauf des G20-Gipfels. Immerhin, so erfährt der Leser vom Experten Dellwo, „passiere endlich etwas.“
Linksextremisten und -populisten sehen in den Krawallbrüdern der 1960er ohnehin diejenigen, die die Deutschen auf den Weg zur ökologischen und humanistischen Vorzeigenation brachten. Wie Kleinkinder, die mit ihrem nimmermüden Geplärre ihre Eltern erziehen, hätten die nimmermüden und lästigen Demonstranten gegen die Atomenergie schließlich den Ausstieg aus der Atomenergie durchgesetzt. Ein kaum zu überbietender Zynismus.
"Radikal denken, entschlossen handeln – nur so ist die Welt noch zu retten."
Die Frage, wem die Krawalle nutzen, spart der
SPIEGEL aus. Immerhin scheint Chefredakteur Klaus Brinkbäumer lernfähig. Nach der herben Kritik an dem dekadenten Titel der Vorwoche reagiert der Chefredakteur nicht, wie eigentlich zu erwarten, in der Hausmitteilung, sondern schreibt einen Leserbrief – an sein eigenes Blatt, also an sich selbst. Darin verweist er auf den kurzen Redaktionsschluss und erinnert daran, dass der
SPIEGEL sich bereits in den zwei Wochen zuvor ausführlich mit dem Thema G20 beschäftigt habe und die Leser stets über
SPIEGEL Online und
SPIEGEL TV über die Ausschreitungen informiert habe. Das paßt nicht zur peinlichen Vorab-Legitimierung der Proteste durch den SPIEGEL und den Jubel über die „Weltstadt Hamburg“. Da ist das Agenda Setting mal so richtig in die Hose gegangen. Zum Job des Chefredakteurs zählt eben auch, die Themen dann zu besetzen, wenn das Leserinteresse besonders groß ist und die inhaltliche Richtung vorzugeben. Das blinde SPIEGEL-Lob auf Globalisierungsgegner ohne Sinn und Verstand schlägt zurück mit der Wucht eines Pflastersteins in die verglasten Redaktionsstübchen. Schon dumm, wie es diesmal ausgegangen ist – der Verlust an Renommee ist gewaltig und hätte in früheren Jahren den Kopf des Chefredakteurs gekostet. Denn wenn die Ernsthaftigkeit erst flöten gegangen ist strahlt das auf das gesamte Heft ab und entwertet auch Beiträge, die noch irgendwie an die frühere journalistische Qualität anknüpfen.
Das gilt auch für weitere Themen im Heft: Das SPIEGEL -Gespräch von Jan Fleischhauer und Klaus Wiegrefe mit dem Militärhistoriker Sönke Neitzel über die Traditionspflege der Bundeswehr. In dem lesenswerten Interview „Die sollen töten können“ wirft der Historiker Ministerin Ursula von der Leyen erhebliche Defizite im Umgang mit der Tradition der Reichswehr und auch Preußens vor. Offensichtlich schreiben im SPIEGEL eine Art Hippie-Redaktion und eine kleinerer Rest guter Journalisten um die Wette.
Für die noch verbliebenen Romantiker erzählt Takis Würger, wie der US-Amerikaner Slava Koza laufend die Strecke von 10.123 Kilometer in der Hoffnung bewältigte, dass die Balletttänzerin Alina Dronova ihn endlich erhören würde. Alina nahm seinen Ring an und sagte: „Ja“.
Wenn zwei Milliardäre wie Otto Happel und Georg Näder sich in dem Beitrag „Aus dem Ruder gelaufen“ von Isabell Hülsen streiten, fühlt sich der Leser gut unterhalten.