Der aktuelle Spiegel ist ein echter Glücksfall. Jedenfalls für Medienexperten und für die Historiker von morgen. Eine Spiegel-Ausgabe wie ein medialer Archaeopteryx, ein Missing Link für jene, die zukünftig der Frage nachgehen wollen, woher sie eigentlich in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre kam, diese gesellschaftsspaltende wachsende Verwirrung rund um Nation, Identität und Massenzuwanderung.
Ausgabe 18/2018 ist deshalb so spannend, weil sie diese Verwirrung so perfekt aus sich selbst heraus spiegelt. Eine große Unsicherheit, ein Verlust des Eigenen, wie Spitzkohl sauer vergoren an den Schreibtischen hinter der Hamburger Glasfassade Ericusspitze 1, dieser vom Wasser aus betrachtet so viel mickrigeren Version dieser atemberaubenden Rem-Koolhaas-Architektur für das Pekinger Staatsfernsehgebäude.
„Spiegel, ach Spiegel, ach Spiegel.“
Das Selbstverständnis des Magazins also auf dem Prüfstein – Wer bin ich eigentlich und wie viele lesen mich morgen noch? – die Auflagen sanken gerade wieder um weitere drei Prozent. „Spiegel, ach Spiegel, ach Spiegel“ steht in unsichtbaren Lettern auf dem Titelblatt, wo aber real zu lesen ist: „Gott, ach Gott, ach Gott.“ Jeweils gebrandmarkt mit den Symbolen der drei Buchreligionen: Halbmond, Kreuz, Davidstern.
Zunächst versuchen es die Autoren noch mit einer Beschwichtigung, wenn sie fragen, ob nicht Deutschland im positiven Sinne so etwas wie ein Kiez sei „inmitten dieser globalisierten, aufgeregten Welt.“ Ein Kiez, indem sich die Menschen gut eingerichtet hätten, weil es hier geordneter und ruhiger zugehen würde als anderswo auf dem Globus, wo doch Bomben fallen und Giftgas Menschen tötet. Aber nun gäbe es „Krach in diesem Kiez“, weil die Religionen plötzlich wieder „eine mächtige Rolle spielen auf der Welt.“ Ja, so kann man es schreiben. Man kann aber auch feststellen, das muslimische Einwanderer Kippa-Träger in Deutschland mit dem Gürtel schlagen auf offener Straße oder ein LKW in einen Weihnachtsmarkt rauscht, was nun durch große Steinquader verhindert werden soll. Alles nur Krach im multikulturellen Kiez?
Nun „Einwanderer“ statt „Flüchtlinge“ – Sprache in Bewegung
Eine Orientierungslosigkeit, die als Salve von Fragezeichen in diesen Artikel geschossen wurde: „Vielleicht hätte man das Video auch abtun können als bedauerlichen Einzelfall. Oder als Shakespeare-Drama: Jude oder nicht Jude? Oder eher noch als Komödie.“ Aber Adams 47 Sekunden hätten eine ganz eigene „suggestive Wirkungskraft“ entwickelt: „Juden werden in Berlin auf offener Straße von Antisemiten verprügelt.“ Ja, so kann man es schreiben. Oder den Täter benennen als das, was er ist: Ein Muslim mit Gürtel, den er benutzt gegen den „Jehudi“.
Ein Muslim mit Gürtel, den er benutzt gegen den „Jehudi“ der, so bringt der Spiegel in Erfahrung, Fußball spielt beim „SV Stern Britz 1889 e.V.“ Aber deshalb wissen unsere sechs Autoren immer noch nicht, wie sie diesen Fall nun am Besten einordnen sollen. Etwas über Antisemitismus in diesem kaiserlichen Deutschland von 1889 erzählen? Das wäre doch was! Aber dafür müsste man einen suchen in dieser Zeit. Und dann fiele auch der große Bogen wieder so schwer, hinüber zum „Jehudi“ von 2018.
Wiedergutmachung durch große Einwanderung
Dass der Spiegel mit der These einer Wiedergutmachung durch Massenzuwanderung allerdings gleichsam den Merkelschen humanistischen Imperativ entkräftet, scheint den Autoren nicht aufgefallen zu sein. Nach der irritierten Feststellung, dass sei alles „ganz schön kompliziert geworden“ eilt das Schreiberkollektiv schnell weg vom eingewanderten Antisemitismus hinüber zu Markus Söders Kreuzaufhängung, der nach Söders Erklärung ja gar kein „Zeichen einer Religion“ sei, sondern vielmehr der „Vergewisserungswunsch der Menschen nach ihrer Identität.“ Armer Spiegel. Dass ist zugegeben eine harte Nuss. An der sich die Redakteure dann auch erwartungsgemäß die Zähne ausbeissen, wenn sie kurzerhand Kippa, Kreuz und Kopftuch zu Symbolen des Kulturkampfes um die Identität einer Gesellschaft in Deutschland erklären. Jeder Fünfte in Deutschland hätte mittlerweile ausländische Wurzeln und gemeinsam würden wir darum ringen, „wer wir sind, wer wir waren und wer wir sein wollen.“ Und der Spiegel vollzieht diesen Prozess also in seinem Paralleluniversum hoch über Hamburg und mitten hinein diese Titlgeschichte. Der Archaeopteryx möchte so gerne fliegen, aber seine Federn sind einfach noch nicht lang genug. Er flattert, er stöhnt, er fällt auf die Nase.
Der Spiegel erkennt sich selbst nicht wieder
Spiegel, ach Spiegel, ach Spiegel. Du armer Federn lassender Archaeopteryx. Denn nun machen sich auch noch Deine spitzesten Federn auf den Weg woanders hin. Alexander Osang zieht um nach Israel. Dorthin, wo die silberglänzenden Kampflieger über den Strand fliegen und ihn zu Tränen rühren: „Ich verstand, warum Israel seine Flieger in den Himmel schickte. Sie zeigten der Welt Muskeln, die weit fetter waren als die der Hausmeisterrapper aus Düsseldorf. Ein Diss für all die Arschgesichter, die dem Land an den Kragen wollen. Nie wieder. Ich stand wie ein Fliegergeneral am Ufer des Mittelmeers und sah in den Himmel. Ich spürte die Tränen kommen.“ Ist das nicht wunderschön aufgeschrieben? So glasklar wie der blaue Himmel über dem Hafen von Jaffa. Dort, wo die Apfelsinen verschifft werden, die Christen in Deutschland nicht mehr essen wollten, weil deutsche Kirchen zu einem „Boykott gegen Israel“ aufgerufen hatten.