Bevor Leser das falsch zuordnen. Die CDU hat keine Programmdebatte geführt, an deren Ende sie ihre Erkennungsfarbe Orange – eingeführt von Angela Merkel bei der Europawahl 2004 – durch Schwarz-Rot-Gold ersetzt hätte. Der Vorstand der Werbeagentur JungvMatt, nicht etwa die CDU, erklärte den Farbenwechsel BILD AM SONNTAG:
„Nationalismus ist falsch, nationale Identifikation aber richtig. Dafür stehen die Kandidaten der CDU.“
Immerhin darf Peter Altmaier auf Twitter assistieren:
Sebastian Kurz, Österreichs Außenminister von der ÖVP und Jens Spahn, CDU bat die BamS zum gemeinsamen Interview, zwei, die sich offensichtlich politisch verstehen. Die Frage, wer von beiden zuerst Kanzler wird, beantwortet Spahn so: „Der Sebastian wird auf jeden Fall Bundeskanzler.“ Und Kurz: „Ich denke, wir leben beide im Hier und Jetzt, da gibt es genug zu tun.“
Verantwortungsflucht
Die oberste Zeile der WamS-Titelseite ziert der Hinweis auf den Exklusiv-Bericht: „Der Tag, an dem Merkel um ein Haar die Grenze geschlossen hätte“. Damit reisst der letzte Faden, an dem die von allen Medien lange transportierte Botschaft von Merkels humanitärem Impuls hing.
Die Behörden hatten alles vorbereitet für die Grenzschließung, die nötigen Kräfte in großer Zahl waren abmarschbereit, nötiges Material hatte man vom Einsatz beim Ellmauer Gipfel dort vorausschauend gelagert. Die Kanzlerin berät sich mit Seehofer, Gabriel, Steinmeier, de Maizière und Altmaier an diesem Samstag um 17 Uhr 30 in einer Telefonkonferenz vom Kanzleramt aus:
„Dann malt sich die Runde Szenarien aus: Was passiert, wenn die Migranten an der deutschen Grenze gestoppt werden? Stauen sie sich in Österreich? Versuchen sie gar, die Grenze zu stürmen?
Am Ende wird de Maizières Vorschlag angenommen. Es soll wieder Grenzkontrollen geben. Parallel dazu soll der Zugverkehr von Österreich nach Deutschland für zwanzig Stunden unterbrochen werden. Und – der springende Punkt: Flüchtlinge sollen an der Grenze zurückgewiesen werden. Jetzt entscheiden sich die führenden Politiker der großen Koalition also genau für das, was Angela Merkel wenig später öffentlich für unmöglich erklären wird.“
Die Bundespolizei bezieht in der folgenden Nacht Stellung. Am Tag drauf versammelt der Innenminister viele leitende Beamte im Lagezentrum seines Hauses. Jetzt (!), nicht vor der Entscheidung werden rechtliche Bedenken vorgebracht und erörtert, und die Frage der Frage, was ist, wenn sich die Migranten nur mit Gewalt zurückweisen lassen, die in mehrfachen Telefonaten de Maizières mit Merkel enden:
De Maizière konnte Merkel „nicht versprechen, dass die Entscheidung später vor Gerichten Bestand haben würde. Und er konnte nicht versprechen, dass es keine unpopulären Bilder geben würde. So bleibt die deutsche Grenze an diesem Wochenende für alle offen.“
Und nun der Befund des WamS-Autors Robin Alexander:
„Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte, oder sonst jemand in der Bundesregierung. Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will.“
Erdogan jenseits des Rubikon
Die WeLT AM SONNTAG setzt ein intelligentes Stilmittel ein. Sie markiert alle Beiträge quer durchs Heft, die sich mit der Türkei befassen – und das tut eine beträchtliche Zahl in nahezu allen Sparten – mit einem Bildsignal. Unterschiedlich deutlich zieht sich durch alle Türkei-Texte die identische Botschaft: das war’s. Österreichs Bundeskanzler Christian Kern sagt in seinem Interview „Die Türkei hat den RUBIKON überschritten“, sein Land wünsche sich den Schutz der EU-Außengrenzen in europäischen Händen, solange es den aber nicht gebe, werde Österreich mit seinen Nachbarn weiter zusammen handeln. Die „Geschichte einer ENTFREMDUNG“ schildert den Weg in der Sackgasse vom EU-Beitritt der Türkei – nicht zuletzt den mehrfachen Wechsel in Merkels Rolle. „Baumeister mit ABRISSBIRNE“ resümiert:
„Präsident Erdogan hat die Türkei durch eine kluge Reformpolitik wirtschaftlich stark gemacht wie keiner vor ihm. Doch nun ist er dabei, sein eigenes Werk wieder einzureissen.“
Angelika Hellemann, für BamS auf Tour mit Kanzlerkandidat Schulz, schreibt von dessen Test vor Publikum, wie er die Agenda 2010 entschärfen will:
„Arbeitslose sollen künftig nach drei Monaten ein Qualifizierungsabgebot der Bundesagentur bekommen. Für die Dauer der Weiterbildung soll sich der Ansprich auf Arbeitslosengeld verlängern. Es gibt Applaus, aber keinen Jubel. Plakative Forderungen wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit kommen besser an.
Es ist das Dilemma von Schulz: Er hat so große Hoffnungen geweckt, dass reale Pläne für manche nicht ausreichend sind.„
Für die Frankfurter Allgemeine SONNTAGSZEITUNG hat die DZ Bank ausgerechnet, auf wieviel Zinsen die Deutschen wegen Draghis Null-Zins-Politik verzichten müssen. Das Ergebnis: Zwischen 2010 und 2016 sollen es 343 Mrd. € gewesen sein; allein 2016 71 Mrd. Es ist der Preis für den Euro und die „Rettung“ seiner schwächeren Mitgliedsländer; ein gewaltiger Betrag. Die jetzt anziehende Inflation verschärft das Problem noch. Wie immer, lässt einen dies hilflos zurück.
Aufmacher ist „Fahrverbot für Diesel schadet der Umwelt“. Immerhin geht es ja nicht nur um Feinstaub, der neuerdings gerne mit Alarm in Verbindung stehe, sondern im Kohlendioxid, also das böse Klimagift. Das spielt neuerdings keine Rolle mehr; der Diesel steht jetzt im Zentrum der Angriffe. Das wird heraus gearbeitet; die Fragwürdigkeit der Feinstaubdebatte allerdings nicht wirklich hinterfragt. Der Teil Technik&Motor versucht sich noch mit einer Ehrenrettung des Diesels. Aber wer die selbstentzündende Wucht der Umweltbewegung kennt, weiß: Rette sich wer kann, ist die Devise. Nicht Fakten zählen, sondern Emotionen, und wenn dabei die Umwelt zu Grund geht, die Energiewende lässt grüßen. Man spürt das Unbehagen der Redaktion an diesem Punkt, ein Unbehagen, das sich noch nicht in Stories umsetzt.
Ansonsten vergnügt uns das Blatt mit einer schlauen Analyse, wie es dazu kommt, dass die Deutsche Börse doch in Frankfurt bleiben muss und ihr Vorstand und Selbstverkäufer-Vorstand Carsten Kengeter auf einige Dutzend Millionen Prämie verzichten muss. Das Ressort Leben berichtet über das „Wechselmodell“, wonach Scheidungskinder zukünftig jede Woche das Elternteil tauschen, was allenthalben als Schritt gewertet wird, der das Väterrecht aufwertet.