Der Vergleich mit dem Fall Thilo Sarrazin in der SPD liegt nahe: Boris Palmer ist ein prominenter Politiker in exekutiver Funktion, der sich durch öffentliche Aussagen gegen den Mainstream seiner Partei, der Grünen, stellt. Beide Parteien, die sich als Gralshüter der Ideale der Toleranz, der Solidarität und der Demokratie generell verstehen, können eben in den eigenen Reihen höchst intolerant, unsolidarisch und autoritär werden, wenn einer der ihren aus der Reihe tanzt.
Aber um zu verstehen, was die Grünen als Organisation offensichtlich nicht ertragen“ können, muss man die Person Palmer etwas näher betrachten – seine Herkunft und die Geschichte seiner Entzweiung mit dem grünen Parteiestablishment, die zugleich die Geschichte seiner überregionalen Prominentwerdung ist. Sie beginnt, wie so manche Entzweiung in Deutschland im Jahr 2015. Boris Palmer, damals schon und heute noch Tübingens Oberbürgermeister, sah die Asylpolitik der Kanzlerin und deren Groko, kritisch. Im Gegensatz zum mehr oder weniger gesamten Rest seiner Partei, die die Kanzlerin aber absolut unterstützten. Eigentlich war es natürlich umgekehrt: Die Kanzlerin und ihre Mitregierenden machten das, was die Grünen (minus Palmer) schon länger wollten.
Damals veröffentlichte er sein Buch „Wir können nicht allen helfen“, in dem er sich ausdrücklich für eine realistischere, also restriktive Zuwanderungspolitik stark macht. Und er sprach laut und öffentlich über Gewaltverbrechen von Zuwanderern. Bei den Parteifreunden stieß Palmer nur auf Ablehnung. Hinweise auf die Wirklichkeit hat man da nicht gerne. Die Weltrettung und Hilfe für buchstäblich alle zu fordern, ist für führende Grünenpolitiker scheinbar selbstverständlich, alles andere steht für moralische Minderwertigkeit. Claudia Roth hat Palmer schon längst den Parteiaustritt nahegelegt. Aber damals konnten ihm seine innerparteilichen Gegner keinen Strick drehen, denn der Tübinger OB handelte mit seiner Stadtverwaltung höchst effizient, schnell und sozial. Die kleine Universitätsstadt nahm über 1700 Flüchtlinge auf, während die bürokratischen Mühlen im Bund noch so ziemlich langsam mahlten. Merkel und ihre „Getriebenen“ hatten die Bundesländer und Kommunen schlichtweg überfordert. Boris Palmer dagegen schaffte eben was weg. Aber er schwieg nicht über die offensichtlichen Probleme der Einwanderung.
Und vor allem ist Palmer einer, der sich von niemandem das Wort verbieten lässt. Das reizt ihn erst recht. „Gegen Sprachzensur wehre ich mich vehement“, sagte er einmal in einem Interview. Palmer ist ein Macher und ein Motzer. Er motzt nicht um des Motzens Willen. Wer sein Wirken in Tübingen seit 2007 kennt, der weiß, dass es ihm ernst ist mit dem ökologischen Gedanken. Aber nicht nur damit.
Kaum ist die innergrüne (und mediale) Empörung über seine Kritik an einem Werbebild der Deutschen Bahn abgeklungen (was ihm nicht gefallen oder gefehlt habe auf dem Bild, auf dem nur Nicht-Weiße zu sehen waren? „Eine Person wie ich fehlt auf dem Bild…“), empört man sich nun über einen Satz beim Frühstücksfernsehen der Privaten, in dem Palmer äußerte, dass man in dieser Coronapandemie wohl das Leben von älteren und betagten Menschen mit etlichen Erkrankungen retten würde, „die sowieso bald sterben“ würden. Klar, Palmer ballert manchmal schnell und ungezielt aus der Hüfte. Und hier hat er natürlich – selbst wenn man verstehen kann, was er sagen will – daneben geschossen. Das gibt nun seinen zahlreichen innerparteilichen Feinden den wohl ersehnten Anlass, ihn endlich zu erledigen. Sowohl die baden-württembergischen Landespolitiker, als auch Parteichef Habeck greifen ihn an. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner spricht vom „Geschäftsmodell Palmer“, das der Partei schade. Man fragt sich natürlich, wie es dann möglich ist, dass Palmer in Tübingen Wahlen mit absoluten Mehrheiten von über 60 Prozent gewinnen konnte. Kaum eine Stadt in Deutschland ist politisch so grün wie Tübingen. Dennoch: Sogar seine grüne Ratsfraktion in Tübingen kündigte Palmer die Unterstützung. Das bedeutet letztlich das Ende der Berufspolitikerkarriere für Palmer, es sei denn, er schafft es bei der nächsten OB-Wahl als unabhängiger Kandidat zu bestehen.
Was treibt Boris Palmer wirklich an?
Dass Palmer, Einser-Abiturient und Mathematiker, so ist, wie er ist, hat wohl auch mit seiner Herkunft zu tun. „Da ist was dran“, sagt Palmer auf seine Herkunft angesprochen. „Wenn man so eine Familiengeschichte hat, dann ist man nicht so leicht durch Beschimpfungen und verbale Repressalien zu erschrecken. Ich stehe für meine Meinungen auch da ein, wo es anderen vielleicht zu sehr weh tut. Ich weiß, dass es schlimmer kommen kann. Das bisschen Streit, das halt ich aus.“
Ein Cousin, Christoph Palmer, war CDU-Politiker und Landesminister unter Erwin Teufel. Im Oktober 2004 hatte er in einem Streit um Rücktrittsforderungen an Teufel dem CDU-Bundestagsabgeordneten Joachim Pfeiffer eine Ohrfeige gegeben und musste daraufhin zurücktreten. Dessen Ehefrau Christine Arlt-Palmer galt auch einmal als politische Hoffnung im Lande und offenbarte sich auf dem CDU-Bundesparteitag 2016 in Essen als Merkel-Gegnerin. Das Kritisieren und widersprechen scheint in dieser Familie dazu zu gehören.
Von seinem Vater, Pomologe von Beruf, erlernte Boris nicht nur die Baumschnittkunst. Bei mehreren Bürgermeisterwahlen kandidierte der streitbare Helmut Palmer, sprach auf den Wochenmärkten mit den Bürgern, die ihm amüsiert oder berührt zuhörten. Der junge Boris Palmer war sehr oft dabei.
Bei den Bürgermeisterwahlen, die Helmut Palmer stets allein und ohne Unterstützung bestritten hatte, holte er stets gute Ergebnisse, selbst bei der OB-Wahl einst in Stuttgart, wo er nach vielen Gesprächen, damals auch mit Gerhard Mayer-Vorfelder als Vermittler von der CDU, eine weitere Kandidatur für die nächste Runde zurückzog, und somit Manfred Rommel indirekt unterstützte. Der CDU-OB Rommel war dem Marktschreier und Baumkundler Palmer immer wohl gesonnen, vielleicht weil beide einen ähnlichen Schalk im Nacken hatten und bodenständige Leute waren.
Wegen seiner zahlreichen Beamtenbeleidigungen musste Boris Palmers Vater mehrmals ins Gefängnis, auch weil er es ablehnte, Tagessätze als Strafe zu bezahlen. Das erste Mal 1963 in die Psychiatrische Abteilung der JVA Hohenasperg wegen mehrerer Beamtenbeleidigungen, sowie einer tätlichen Auseinandersetzung im Gerichtsgefängnis, und ein weiteres Mal im Jahr 2000, als sich der alte Palmer weigerte, die Geldbuße von 1000 Mark zu entrichten, die er zusammen mit einer dreimonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung erhalten hatte. Palmer Seniors Worte und Vergleiche waren oft grenzwertig, wenn ihm die Obrigkeit irgendwie „dumm“ kam. So soll er in einem überlieferten Fall einem Gerichtsbeamten gesagt haben: „Welche Nazi-Muttermilch hast Du gesoffen?“ Seinen Gegnern attestierte er, dass sie sich zur Politik und Demokratie eignen, „wie ein Igel zum Arschputzen…“.
Dem damals bereits schwer krebskranken und gerade operierten Palmer wurde Haftfähigkeit und dem „Vollzugskrankenhaus Hohenasperg“ auch Tauglichkeit für die Aufnahme des Krebspatienten, Palmer, attestiert. Freunde und Unterstützer machten sich für Helmut Palmer stark, aber Gnadengesuche von Rezzo Schlauch (Anwalt sowie damaliger Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen) und von Stuttgarts Alt-Oberbürgermeister Manfred Rommel erhörte die Landesregierung nicht.
Helmut Palmer nannte sich selbst einmal: „der höchstbestrafte Bürger in Deutschland, vielleicht sogar in Mitteleuropa – für so genannte Beamtenbeleidigungen.“ Ob er kriminell sei? Er, der Obstbauer, habe „nicht einmal ein Radieschen beschissen. Das macht mich besonders bitter.“ Ja, nicht wenige sagen, Helmut Palmer, ein belesener Mann und ökologischer Praktiker, habe fast schon ein heiliger Zorn getrieben. Das denken wohl viele Grüne auch über seinen Sohn Boris. Allerdings kann man mittlerweile auch eher den Eindruck gewinnen, dass es umgekehrt ist. Die Partei treibt ein heiliger Zorn gegen ihr prominentes Mitglied, das immer wieder die Dogmen der Partei mit der Wirklichkeit konfrontiert.
Ob Palmer Mitglied der Grünen bleiben wird, ist nicht ausgemacht. Ob er auch ohne deren Unterstützung Tübingens Oberbürgermeister bleiben kann, ist angesichts seiner bisherigen Wahlergebnisse durchaus vorstellbar. Nicht vorstellbar ist jedenfalls, dass er künftig keine politischen Äußerungen mehr macht, die seinen Parteifreunden und anderen Gralshütern der bundesdeutschen Dogmenherrschaft missfallen.