Lügendetektoren sind umstritten. Auch, ob sie wirklich funktionieren. Ich wünsche mir in diesen verrückten Tagen einen ganz anderen Detektor: Einen Satiredetektor. Weil der Unterschied zwischen Realität und deren Verballhornung im „besten Deutschland aller Zeiten“ regelmäßig derart verwischt, dass man ohne eine Promotion in Humorkunde als Normalsterblicher einfach überfordert ist.
Das besonders Perfide an dem Dilemma: Es wirkt auch in der Gegenrichtung. Macht man selbst einmal einen politischen Witz, wird der sofort von vielen ernstgenommen (siehe hier) – was zu derart heftigen Reaktionen führen kann, dass die EU sicher bald vorschreiben wird, für jede satirische Äußerung unbedingt einen (virtuellen) Beipackzettel mit Hinweisen auf die Risiken und Nebenwirkungen beizufügen.
Der hätte im Falle von Svenja Hahn sicher geholfen. Die 29-jährige kandidiert für die FDP für das EU-Parlament. Was per se weder katastrophal noch beunruhigend wäre – hätte die Liberale nicht einen Werbespot ins Netz gestellt, in dem sie mit übertrieben affektierter Stimme, Gestik und Mimik aufklärt, wie eine Briefwahl zu erfolgen hat: „Iiiich zeig euuuuch heute, wie man Europa vor dem Untergang schützen kann und trotzdem seinen Wunschsonntag machen kann (…) Ich bin ein bisschen aufgeregt, weil guckt mal hier, auf Platz 2, das bin iiich.“
Da man als Autor nie weiß, in welchen Situationen der Leser (m/w/d oder wie auch immer) den eigenen Text lesen wird, will ich mich mit weiteren Zitaten aus dem Video zurückhalten, schließlich wäre es schade um verschütteten Orangensaft, und ich will Ihnen auch keine schrägen Blicke in der Straßenbahn einbringen (nur für den Fall, dass Sie wirklich sehr hart gesotten sind und am besten auch in einem privaten Raum, hier der Link zum Video und zu einem Bericht darüber; sagen Sie danach bitte nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt).
oder
Wahlkampf im Stil von Sonderpädagogik. Wahrscheinlich sind bei diesem Youtube-GAU nicht nur die Zuschauer Opfer, sondern auch Svenja Hahn selbst – spricht doch viel dafür, dass ihre Absicht war, mit dem Video youtube-Influenzer zu parodieren. In Zeiten, wo ernst gemeinte Auftritte regelmäßig nicht mehr von Parodien zu unterscheiden sind (und ich verkneife mir jetzt hier tapfer und politisch ganz korrekt, den Namen des deutschen Außenministers zu nennen), geht so ein Schuss schnell nach hinten los. Hahn, als Hamburgerin auf Listenplatz zwei der FDP bei der EU-Wahl, wurde Opfer dessen, was man heute etwas martialisch „Shitstorm“ nennt. Wer jemals in Exkremente getreten ist, oder wer noch schlimmeres in dieser Richtung erlebt hat, weiß, wie maßlos dieser Ausdruck für virtuelle Attacken ist. Sei´s drum.
Amüsant wurde es nicht für die junge Frau, der man mildernd zugute halten muss, dass sie in die Politik gegangen ist und ins EU-Parlament will, statt etwa als Stewardess vor Hunderten Passagieren Sicherheitsanweisungen zu geben – was wirklich hätte ins Auge gehen können.
Screenshots Berliner Kurier
Weitaus eindeutiger war die Grenzlinie zwischen Ernst und Satire im Falle von Udo Bullmann.
Wobei ich nicht weiß, wer sich mehr schämen soll – Bullmann, die SPD, oder ich. Oder wir alle drei. Denn der Mann war mir kein Begriff, und so erkannte ich ihn nicht auf twitter. Schlimmer noch: Für einen Moment dachte ich, es handle sich um einen Parodie-Account. Asche auf mein Haupt (aber es war wirklich nur für einen Moment).
Der 62-Jährige ist Spitzenkandidat der SPD bei den EU-Wahlen!
Als ich gerade beim Schreiben dieses Artikels schnell eine Quintessenz seines politischen Wirkens auf Wikipedia finden wollte, wurde ich nicht fündig in der Hitze des Gefechts. Ich gab es irgendwo im Dickicht von Funktionsbezeichnungen auf – genauer gesagt bei dieser Stelle: „Er ist Mitglied in der Delegation für die Beziehungen zur Föderativen Republik Brasilien sowie in der Delegation für die Beziehungen zu dem Mercosur und der Delegation in der Parlamentarischen Versammlung Europa-Lateinamerika.“
Ich gestehe – jetzt bin ich noch beschämter, dass ich ihn nicht kannte – jemanden, der derart wichtige Funktionen inne hat. Offenbar bin ich ein Politik-Banause, der nichts versteht von den wahren Prioritäten.
Heute bereute ich es, dass ich Bullmann nicht früher wahrgenommen habe. Denn sein tweet, den ich erst für Parodie hielt, ist so schlecht, dass er auch schon wieder gut ist – zumindest als Anschauungsmaterial – und vielleicht hat der Mann ja schon öfter etwas davon geliefert – allein der Gedanke löst bei mir einen Phantomschmerz aus:
Jeder Satz eine Perle. Ein Volltreffer im Worthülsen-Bingo!
Wollen mir mal zur Seite lassen, dass es am Sonntag nicht um die Zukunft von ganz Europa, sondern nur der EU geht, und auch das nur sehr bedingt, weil das Parlament ja – lassen Sie es mich höflich ausdrücken – recht beschränkt ist in seinen Vollmachten. Gut, wenn man mittendrin sitzt wie der Politikwissenschaflter Bullmann, kommt man sich vielleicht wichtiger und schicksalsträchtiger vor, als man ist.
Der zweite Satz macht mich nachdenklich: Der 62-Jährige sitzt seit 20 Jahren im Parlament – und jetzt geht es ihm darum, „unsere Gemeinschaft solidarischer und sozialer zu gestalten“. Mit meinem angeborenen Hang zur Ketzerei (früher nannte man das kritisches Nachfragen) würde ich jetzt die Frage gegenhalten, was Herr Bullmann die letzten 20 Jahre auf der harten Parlamentsbank gemacht hat, aber so etwas wäre heute sicher schon Majestätsbeleidigung. Und die verkneife ich mir, nachdem sogar die Welt auf ihren Leserbrief-Kommentarspalten bei einem Bericht über einen so genannten „Bürgerdialog“ der Kanzlerin die Grenzen der Meinungsfreiheit neu und sehr eng gesteckt hat:
Screenshot: „Die Welt“
Ich gebe zu, ich wollte statt „Bürgerdialog“ der Kanzlerin „Audienz“ schreiben, aber in den Augen der Kollegen von der Welt würde ich mich damit offenbar schon nicht mehr im Rahmen der grundgesetzlich abgesteckten Meinungsfreiheit bewegen (wie, so fürchte ich, mit vielem, was ich über die Kanzlerin zu sagen und zu schreiben hätte). Also in jedem Fall wäre ich als Kommentator für die Welt denkbar ungeeignet (und bin umso froher, hier offen schreiben zu können).
Aber zurück von der Kanzlerin zu ihrem Genossen – sorry, ist mir entrutscht, die Unterschiede sind einfach zu wenig zu bemerken, ich hoffe, jetzt kommt nicht der Staatsanwalt oder irgend ein Kommentarspalten-Aufpasser) – also zurück zum echten Sozialdemokraten, zu Bullmann. Warum es „solidarischer und sozialer“ nur mit der SPD geht, ist mir ein Rätsel, wo die CDU die SPD teilweise schon links zu überholen droht.
Rätselhaft ist für mich auch der letzte Absatz Bullmanns. Allein der Titel der ZDF-Sendung wirkt wie Parodie. „Wie geht´s, Europa?“ Was soll das? Helmut Schmidt sagte einst, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Muss das dann nicht auch für Leute gelten, die mit einem ganzen Kontinent reden?
Und wie bitte soll man Barley im ZDF unterstützten, wie Bullmann vorschlägt? Durch das Einschalten der ZDF-Wahlsendung? Verfügt sie über die Kunst der Telepathie und erfasst es intuitiv, wer und wie viele ihr zuschauen? Oder konnte man live vom Wohnzimmer aus Fragen stellen? Dann sollte da aber stehen „ruft an“, oder „schickt Fragen“.
So bleiben nur die selben. Wobei die Antwort ja schon in Bullmanns tweet steht: Europa ist die Antwort. Darauf, wie ich Barley in ZDF unterstützen soll?
Frau Barley hat mich schon zuvor verwirrt. Mit ihrem Plakat mit dem Spruch „kommt zusammen für Europa“. Ich verkneife mir hier, was mein erster Gedanke war, als ich das las. Offenbar bin ich nach 16 Jahren in Russland etwas verdorben. Aber ich schwöre es: Einige meiner russischen und ukrainischen Freunde, die gut deutsch kennen, hatten den gleichen sündigen Gedanken wie ich.
Wenn ich schon beim Beichten angekommen bin, muss ich noch ein Geständnis machen: Dies sollte eigentlich ein ernsthafter Bericht werden. Darüber, wie ich kürzlich eine Bekannte, die ich seit Jahrzehnten kenne und die inzwischen seit vielen Jahren für die SPD im Bundestag sitzt, im Zug traf – und bei dem Gespräch merkte, dass wir in unterschiedlichen Universen leben. Ich im harten Berliner Alltag, sie in einer Funktionärs-Welt. Mit ganz anderen Themen, ganz anderen Prioritäten. Darüber, dass sich unsere Realitäten nur rudimentär überschneiden. Und dass die Menschen das spüren. Dass dies wohl die wirkliche Ursache für die Probleme der SPD ist. Darauf kam ich, weil Bullmanns tweet so typisch für diese Abgehobenheit der Nahles-SPD ist. Einer ehemaligen Arbeiterpartei, die feindlich übernommen wurde von der eigenen, akademischen Funktionärskaste, vorwiegend politischen Trockenschwimmern, die von der realen Arbeitswelt so wenig Ahnung haben wie ein Quantenphysiker vom Holzfällen.
Über meine unglaubliche Begegnung mit der Abgeordneten erzähle ich nun ein anderes Mal. Entschuldigen Sie, dass ich mich ablenken ließ. Dass dieser Beitrag nicht den nötigen Ernst aufweist. Aber je mehr ich mich mit dem EU-Wahlkampf befasse, um so weniger kann ich viele der Hauptdarsteller ernst nehmen. Ich bekenne mich dafür schuldig. Ich weiß, ich sollte mich zusammenreißen. Aber es gelingt mir nicht. Immer, wenn ich es versuche, stoße ich auf einen Bullmann, auf eine Svenja Hahn, oder einen Maas (Mist, jetzt ist der Name doch gefallen, sorry).
Ich hoffe auf Ihre Nachsicht. Ich habe in Russland gelernt, dass Humor, frei nach Freud, ein Mittel ist, um das Unerträgliche erträglich zu machen. Das gilt auch für den aktuellen EU-Wahlkampf. Ich berufe mich also offiziell auf (Humor-)Notwehr. Und empfehle das zur Nachahmung. Man muss das Ganze nur als große Satire-Show betrachten.
In diesen völlig verrückten Zeiten muss ich oft an einen meiner Lieblingssprüche bzw. Witze denken, aus der Ukraine, der den Hang zum Absurden im slawischen Humor wunderbar zusammenfasst:
Ich stehe auf dem Asphalt,
angeschnallt auf meine Skibretter,
und ich verstehe nicht,
warum die Ski nicht fahren,
sind sie kaputt,
oder bin ich durchgeknallt?
Zumindest den Lesern dieser Seite ist dieser verzweifelte Spruch aus der Ukraine sicher auch in Deutschland verständlich . Ich denke, viele von Ihnen fragen sich heute so wie ich beim Lesen von Nachrichten und in den sozialen Netzwerken: Bin ich im falschen Film? Ist das alles absurdes Theater?
Allerdings keimt immer öfter ein Verdacht in mir auf. Könnte diese Verwandlung des Wahlkampfes, ja großer Teile der Politik in absurdes Theater vielleicht Absicht sein? Sie lenkt von den wirklichen Problemen ab, von den unpopulären Themen. Allzu bequem. Vielleicht ist alles doch gar nicht so dumm, wie es scheint? Oder beides. Nicht nur dumm, sondern auch nützlich.
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In seiner Kolumne «Berlin extrem – Frontberichte aus Charlottengrad» lüftet Boris Reitschuster ironisch den Blick hinter die Kulissen der russisch-ukrainisch-jüdischen Diaspora an der Spree, deren Außeneinsichten oft ungewöhnliche Perspektiven eröffnen. Darüber hinaus spießt der Autor den Alltags-Wahnsinn in der Hauptstadt auf – ebenso wie die Absurditäten in der Parallelwelt des Berliner Politikbetriebs und deren Auswirkungen auf den bodenhaftenden Rest der Republik. Weitere Beiträge aus der Kolumne finden sie hier. Alltagsgeschichten aus Moskau von ihm sind auch in Buchform erhältlich: „Russki extrem im Quadrat“.