Tichys Einblick
Frontbericht aus Charlottengrad

Sozialismus-Déjà-vu bei Vapiano

Der Besuch in einer Restaurant-Kette wurde für einen Fürsten aus Montenegro zum Kulturschock: Er fühlte sich wie in einer Zeitmaschine in den Kommunismus versetzt – und war fassungslos, wie begeistert viele Deutschen davon sind. Doch dann setzte er seine eigene kleine friedliche Revolution durch …

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Mein Freund, der Fürst, ist hart gesotten und nicht so leicht aus seiner stoischen Ruhe zu bringen. Bogomir – so soll er hier genannt werden, weil er anonym bleiben will – hat den Anfang des Bürgerkriegs in Jugoslawien erlebt, bevor er flüchtete. Unterschlupf fand der stets überaus gepflegte Mitvierziger auch bei bekannten europäischen Adelshäusern – die auch nicht genannt werden sollen. Man(n) ist diskret im Hochadel. Man legt Wert auf gepflegte Umgangsformen. Und gutes Essen – Tischgebet natürlich inklusive. Wer derart konservativ ist, tut sich in Berlin schwer. Und so klagt seine Durchlaucht immer, wenn ihn unaufschiebbare Angelegenheiten in die Hauptstadt führen. „In die DDR“, sagt er dann gerne mit spitzer Ironie und breitem slawischen Akzent.

Reisen in die „DDR“ sind an sich schon schlimm genug für den Fürsten, der das Wort Kommunismus mit einem Gesichtsausdruck ausspricht, als rede er von einer Geschlechtskrankheit. Aber diesmal habe ich noch eins draufgesattelt. Ganz ohne böse Absicht. Hand aufs Herz! Weil es vor einem Abendtermin eng war, konnte ich Bogomir – er war gleich skeptisch, sein Instinkt arbeitet untrüglich, das muss zu seiner Ehrenrettung gesagt werden – überreden, in das nächst gelegene Restaurant der Kette Vapiano zu gehen. Die bietet zwar italienisches Essen an, ist aber eine deutsche Schöpfung.

Das spürte Bogomir, bis auf die Knochen Mediterraner, denn auch sofort. Dass da lauter riesige Tische waren wie in einem Bierzelt, führte zu einem nervösen Zucken seiner Oberlippen und einem erschrockenen: „Mon dieu“. Das sollte ich noch öfter hören in der folgenden Stunde. „Gibt es denn keine Tische für zwei oder vier, kann man nirgends etwas Privatsphäre haben?“, fragte Durchlaucht in fast kindlicher Naivität. Ein paar Einzeltische gab es zwar, aber die waren alle besetzt – und massiv in der Unterzahl gegenüber den „Kommunen-Tischen“, wie Bogomir sie taufte.

Kaum hatten wir einen Platz erstanden an einem Acht-Mann-Tisch neben einer geselligen Runde – der Schmerz war Bogomir förmlich anzusehen, schon lauerte der nächste Schock. Er wollte es sich gerade gemütlich machen, da fragte ich ihn: „Willst Du nicht essen?“ – „Doch, natürlich“, antwortete Durchlaucht, und strich sich voller Vorfreude mit den Fingern über die Lippen. „Dann müssen wir aufstehen“, entgegnete ich ihm. Seine Hände fuhren gen Himmel bzw. Decke: „Du machst Witze?“ – „Nein, Bogomir, hier ist Selbstbedienung!“ – „Mon dieu!“

Der Gesichtsausdruck des Fürsten verfinsterte sich noch einmal erheblich, als er sah, welche Schlange an dem Ort war, den er sofort als „Essensausgabe in einer sozialistischen Kantine“ identifizierte. Wobei ich nicht weiß, was die Umherstehenden wohl mehr schockiert hätte, hätten sie uns überhaupt beachtet: Dass Bogomir wie immer ganz in schwarz gekleidet war im Don-Capone-Stil und in die Umgebung passte wie eine Nonne in die Diskothek, oder dass sein Gesichtsausdruck an den erinnerte, den man gewöhnlich hat, wenn man eine Küchenschabe im Essen findet (Entschuldigung, aber ich habe 16 Jahre in Russland gelebt, und manchmal geht deshalb der Russe in mir durch, aber ich übersetze das gerne auf deutsche Verhältnisse: Haar in der Suppe).

Dass „Principe“, wie sich der Fürst gerne nennen lässt, gefühlte fünf Minuten warten musste („Mon dieu!“) war noch gar nichts im Vergleich zu dem Schock, den er erlebte, als er – gewohnt an gehobene Restaurants – in dem vermeintlich erlösenden Moment, als er dran kam, den etwas übernächtigt wirkenden und schlecht rasierten Pizzabäcker hinter dem Tresen fragte, was denn die Tagesempfehlung sei. „Da ist die Karte!“, beschied der im Tonfall eines Feldwebels. „Wo?“ fragte Bogomir höflich. Als Antwort kam ein Grunzgeräusch und ein Fingerzeig. Hastig reichte ich Bogomir die Karte – während von hinten schon die nächsten Gäste uns zur Seite abdrängten.

Bogomir quälte sich durchs Menu und wurde dabei mehrfach angerammt. Als seine zaghaften Versuche zu bestellen, endlich erhört wurden, gab es zur Bestätigung wieder ein Grunzen. Der Mann, von dem dieses ausging, drückte Bogomir ein Plastik-Teil in die Hand. Der Fürst musterte es wie etwas Außerirdisches. „Mon dieu, was ist das, Boris? Das ist doch nicht meine Pasta? Das ist eine Riesen-Wanze!“ Ich erklärte ihm, dass es sich um eine Art Funk-Wecker handelt, mit dem wir benachrichtigt würden, wenn das Essen fertig ist. „Warum werden wir benachrichtigt? Warum nicht der Kellner“, fragte der Principe offenherzig. Spätestens jetzt begriff ich, dass es kein einfaches Abendessen werden würde.

Bogomir wollte sich wieder an den Mann am Tresen wenden, um Salat, Wein und Wasser zu bestellen. Der grunzte nicht einmal mehr. Ich erklärte Bogomir, dass wir uns dafür an einem anderen Tresen anstellen müssen. „Mon dieu, Du scherzt? Schon wieder“. – „Nein, Durchlaucht, ich scherze nicht – hier, diese Schlange, lass uns da anstehen“. Bogomir rollte mit den Augen. Ich spürte, wie da gerade eine Welt zusammenbrach. „Mon dieu!“

Als wir nach dem zweiten Schlangestehen endlich wieder am Ziel unserer kulinarischen Träume waren, erwartete Bogomir der nächste Schock: „Wein gibt es hier nicht, da musst Du an die Bar!“ Als er seine Schockstarre überwunden hatte, fragte mich Bogomir: „Warum duzt er mich? Kenne ich ihn?“ Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Es gelang halbwegs. Bis ich ihm klar machte, dass es den Wein nicht hier gebe, sondern wir nochmal den Ausgabeort wechseln müssten. „Noch eine Schlange?“ Das war die verbale Botschaft. Die Botschaft aus seinen Augen war: „Boris, wo hast Du mich hingebracht?“

AUSZUG AUS DER WEBSITE VON VAPIANO:

• Design, Dekoration, Musik und das richtige Licht schaffen eine
inspirierende Atmosphäre, die all Ihre Sinne erfrischt.
• Anregende Kommunikation zwischen Gästen und Vapianisti führt dazu,
dass sie sich als Freund willkommen fühlen.
• Perfekte Ausführung – bei jedem Gast, zu jeder Zeit.

Ich erspare jetzt allen Beteiligten – Bogomir, den Lesern und mir – ausführlich zu berichten, welcher clash of civilisations, also Zusammenprall der Zivilisationen, stattfand, als Durchlaucht die Warteschlange an der Bar abgestanden hatte und dann in unermüdlicher Gutgläubigkeit fragte, was er für Weine gebe. Bei der Aufzählung durch den Barman verzog sich sein Gesicht immer mehr, so, wie wenn man ihm eine Nadel immer tiefer unter die Haut gestochen hätte. Parallel wurde der Barman immer stolzer, weil er offenbar – aus seiner Sicht – immer bessere Weine aufzählte. Resigniert entschloss sich der Fürst für einen Tropfen, den er für „knapp unter der Vergiftungsgrenze“ befand (wobei zu seiner Ehrenrettung gesagt sei, dass er keinesfalls ein Snob ist, sondern einfach mediterraner Genießer, der großen Wert auf Qualität legt.).

Etwas frustriert nippte Bogomir an seinem Wein, als plötzlich die Wanze lautstark losvibrierte. Er zuckte zusammen, wahrscheinlich hat er im Bürgerkrieg schlimme Dinge erlebt. „Beruhige Dich, das ist eine gute Nachricht, das Essen ist fertig.“ Zum ersten Mal seit Betreten des Lokals legte sich wieder jenes entspannte, sonnige Lächeln auf Bogomirs Gesicht, das ich an ihm so schätze. „Na, dann spiele ich heute mal meine eigene Bedienung“, sagte er, als wir uns auf den Weg machten. Ich hatte irgendwo tief in mir geahnt, dass der größte Schock noch bevorsteht.

„Was ist das?“, fragte Bogomir verdutzt, als ihm der Mann hinter dem Tresen mit dem obligatorischen Grunzen schmetternd eine Pizza vor die Nase stellte. „Hä?“, antwortete der Pizzabäcker. Bogomir wiederholte seine Frage: „Was ist das, mon dieu?“- „Deine Pizza“, brummte der Mann aus seinem kaum geöffneten Mund: „Der nächste!“

AUSZUG AUS DER WEBSITE VON VAPIANO:

ALL WE DO,
WE DO WITH LOVE,
TO REFRESH YOUR LIFE.

„Ich esse nie Pizza“, sagte Bogomir mit angespitzten Lippen: „Ich habe Pasta bestellt, mit Frutti di mare, nicht Pizza!“ Da schien sein Widerpart aufzuwachen, bzw. der Oberlehrer in ihm, er zeigte auf das Schild, das über unseren Köpfen hing: „Hier gibt es nur Pizza, Pasta ist drüben, am anderen Stand“, meinte er triumphierend. Bogomir zuckte zusammen, doch er fasste sich schnell: „Ich habe aber Pasta gesagt, nicht Pizza“. Ich könnte schwören, Bogomir wäre um ein Haar umgefallen, und nur die Tatsache, dass ich breitschultrig hinter ihm stand, rettete seine Unversehrtheit, als die Antwort des Pizzabäckers kam: „Kannst Du nicht lesen?“ Das war zu viel für Bogomir: „Boris, frage den Herren bitte, ob er nicht zuhören kann?“ Dann streckte er die Hand von sich und sagte: „Dann nichts, danke!“, und drehte sich um – ohne sein Essen. Der Pizzabäcker schrie ihm noch etwas hinterher, was aber nicht mehr deutlich zu vernehmen war.

Kopfschüttelnd, ja außer sich saß Bogomir am Tisch und verstand die Welt nicht mehr: „Mein Gott! Ich bin im Sozialismus aufgewachsen, ich bin vieles gewöhnt, aber so schlimm war es kaum in einer kommunistischen Kantine! Das ist Sozialismus hier! Und den Menschen scheint es auch noch zu gefallen!“ Bogomir starrte fassungslos ins Leere, sofern man von einer solchen in dem überfüllten Restaurant sprechen kann.

AUSZUG AUS DER WEBSITE VON VAPIANO:

VAPIANISTI

• Unerschütterliche Integrität ist die Grundlage des Vertrauens zwischen uns allen.
• Der Stolz auf unsere Marke vereint uns als Team in allem was wir tun.
• Die persönliche Entwicklung ist die Grundlage unseres gemeinsamen Wachstums
• Ein ständiges in Frage stellen des Status Quo sichert unseren langfristigen Erfolg.
• Außergewöhnliches Engagement findet seine Anerkennung.

„Mon dieu“, seufzte der Principe immer wieder, und auch mir war der Appetit auf meine Pizza vergangen. Bis eine junge Frau an den Tisch trat, in Vapiano-Kleidung. „Jetzt wird er gezwungen, die Pizza aufzuessen“, war der erste Gedanken, der mir durch den Kopf ging. Oh Gott, mein Adrenalinspiegel! Und das, obwohl ich aus Russland einiges gewohnt bin. Aber nein. Es gibt noch Wunder. Die junge Frau erkundigte sich, was falsch gelaufen sei. „Nichts“, meinte Bogomir zuerst nur apathisch. Als sie dann aber sehr freundlich nachfragte, taute Bogomir auf. Erzählte, dass er aus Montenegro sei, mit dem System des Restaurants nicht vertraut: „Verzeihen Sie meine Ungebildetheit“. Die junge Dame verzieh und bot an, das richtige Gericht zu bringen. „Besten Dank, junge Dame, aber mit Verlaub, Ich bleibe lieber hungrig, als nochmal anzustehen“. Und siehe da, der Sesam öffnete sich, der kulinarische Sozialismus bekam ein menschliches Antlitz: „Ich bringe sie Ihnen“, sagte die junge Dame. Ein doppeltes Wunder – siezen und Bedienung.

Und das Schicksal verwöhnte uns sogar noch weiter! Am Ende wurden uns sogar noch ein Nachschub an Wein und der Nachtisch an den Tisch gebracht. „Siehst Du, im Sozialismus kommt es immer darauf an, was man mit sich machen lässt. Man muss sich nur wehren!“, triumphierte Bogomir, als ihm ein neues Glas Wein gebracht wurde: „Mein ganz persönlicher Prager Frühling ist das, meine kleine, private Revolution, für Sozialismus mit menschlichem Antlitz, oder zumindest mit Bedienung!“

Dass Einzelkämpfer in sozialistischen Systemen jedoch allenfalls Teilerfolge verbuchen können, wurde dem Fürsten spätestens wieder klar, als er um die Rechnung bat. Anders als im echten Sozialismus, wo es für Auserwählte stets Sonderbehandlung gibt, führte da nichts an der nächsten Warteschlange vorbei – an der Kasse. Bogomir stand sie kopfschüttelnd ab: „Bei uns sind die Leute vom Sozialismus weggelaufen, hier stehen sie dafür an, freiwillig!“


Weitere Beiträge aus Boris Reitschusters Kolumne „Berlin extrem – Frontberichte aus Charlottengrad“ finden sie hier.

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