Piëch hat mit einem kleinen Satz in einem kleinen Interview die Führungsfrage im VW-Konzern eröffnet und damit im Hintergrund Panik ausgelöst. Alle wollen, dass das Schiff VW in ruhigen Wassern läuft und läuft. Das Kalkül von Piëch ist im ersten Schritt aufgegangen.
Nach der Solidaritätsbekundung des Präsidiums für Winterkorn am letzten Freitag hieß es, Winterkorn habe den Machtkampf bei VW gewonnen, Piëch habe eine Niederlage eingefahren. Nachdem sich jedoch unverzüglich alle Beteiligten auch hinter Piëch versammelt haben, ist die neueste Volte in den Medien, dass sowohl Piëch als auch Winterkorn und auch VW selbst von dem Machtkampf um die Führungsspitze angeschlagen wären. Aber auch davon kann vernünftigerweise keine Rede sein. Tatsächlich ist Winterkorn angezählt, und Piëch hat Zeit, seinem ersten Paukenschlag weitere Schritte folgen zu lassen.
Was kann ein Aufsichtsratschef, was soll er, wofür ist er da? Was darf er überhaupt? Die Frage nach der tatsächlichen Rechtsmacht ist in der Öffentlichkeit, die den zehn Tage dauernden VW-Krimi begleitet, wenig konkret gestellt und beantwortet worden. Ach so, es handelt sich um Ferdinand Piëch, den „Patriarchen des VW-Konzerns“, wie er in den Medien ganz selbstverständlich und ohne Ironie genannt wird. Was gelten da schon das bisschen Aktienrecht, das kleine VW-Gesetz, die Arbeitnehmermitbestimmungsregeln, die bei VW etablierte Gewerkschaftsmacht und all die anderen Vorschriften, an denen sich andere die Zähne ausbeißen und über die die Juristen die großen Streitstände führen, hoffentlich immer im Interesse ihrer Mandanten.
Piëch ist Gesetz und noch ein bisschen mehr
Piëch ist Gesetz und noch ein bisschen mehr. VW ist und war immer etwas Besonderes. Kraft durch Freude, Freude für alle – und der Mythos Porsche war immer dabei, die Mächtigen und Regierenden irgendwie auch. VW, der Wagen für das Volk, die Firma, die dem Volk gehört – das war auch die Vision des ökonomischen Urvaters der Bundesrepublik Deutschland oder Erfinders der sozialen Marktwirtschaft, wie der zunehmend gern zitierte Ludwig Erhard gesehen wird, der auch das Eigentum an den Produktionsmitteln breit gestreut wissen wollte.
Nicht nur das Auto für das Volk, sondern auch eine Volksaktie, eine Aktie für alle – das war in den sechziger Jahren das Credo Ludwig Erhards, der einen gezähmten Kapitalismus mit einer kleinen, aber breit gestreuten Teilhabe aller an den Produktionsmitteln für die ideale Organisationsform einer Volkswirtschaft ansah.
1961 wurde die VW-Aktie erstmalig an der Börse gehandelt. Der Bund und das Land Niedersachsen verkauften ihre Anteile mit einem sogenannten Sozialrabatt auch an den kleinen Mann, der bis dahin kaum wusste, was eine Aktie überhaupt sein könnte. Mit 20 % Kapitalanteil blieb das Land Niedersachsen quasi als Garant für geordneten Kapitalismus am Unternehmen VW beteiligt. Was mit der Privatisierung des VW-Werkes 1961 begann, aus dem damals ein Produkt herauskam, nämlich der legendäre VW, der später Käfer genannt wurde, ist zu einem unübersichtlichen Konzernkonglomerat geworden, bei dem die Kernmarke VW von zwölf weiteren Marken wie Audi, Porsche, Skoda, Seat und einige Exoten ergänzt wird.
Geschachtelt und im Detail von wahrscheinlich nur noch Wenigen vollständig durchschaut, aber immer von der Öffentlichkeit besonders interessiert begleitet, stellt sich der VW-Konzern heute dar. Er beschäftigt fast 600 000 Mitarbeiter, die Mitarbeiter abhängiger Zulieferfirmen nicht mitgerechnet. Allein diese Zahl verleiht dem VW-Konzern, ganz unabhängig von der Produktivität und Gewinnsituation des Unternehmens eine herausragende Bedeutung. Heute sind nur noch zehn Prozent VW-Aktien im Streubesitz. Die Großaktionäre sind das Land Katar, das Land Niedersachsen sowie der große Porsche-Piëch-Familienclan. So einem Koloss wie VW überhaupt zusammenzuhalten und zu „regieren“ ist objektiv fast unmöglich. In einem solchen Konzern seine eigene Karriere zu basteln und den Durchmarsch an die einsame Spitze zu schaffen, das ist der Genius des Ferdinand Piëch.
Gelernter Techniker, geborener Machtmensch, Großerbe, der das ökonomische Denken mit der Muttermilch aufgesaugt hat, muss man Ferdinand Piëch wohl als Glücksfall für VW betrachten. Er vereinigt in seiner Person zu allem anderen auch das Erbe des Technikers und Firmengründers Porsche, der in seiner Zeit zu den ganz großen Pionieren der Branche zählte. Piëch ist Mister VW, Mister Automobil himself. Alle widerstrebenden Kräfte im VW-Konzern, und deren gibt es viele und mächtige, scheinen sich gegenseitig zu kompensieren, aber auch zu beruhigen, in das Ganze einzufügen und sich letztendlich unterzuordnen. Piëch muss sich nicht mehr abarbeiten. Er kann das aktive Rentnerdasein genießen.
Ihm reicht ein skeptischer Blick oder ein Lächeln oder ein kleiner Satz in einer Zeitung, um die Grundweichenstellung im Konzern vorzunehmen. Piëch ist nicht der Geschäftsführer. Der heißt Martin Winterkorn. Piëch ist nur Oberaufseher, also eine Art involvierter Bundespräsident. Aufsichtsratsposten sind gut bezahlte Nebenjobs und „Veranstaltungen“ Has Beens weich fallen zu lassen. Sie sind nicht für das konkrete operative Tagesgeschäft gemacht. Die Bankerlegende Herman Josef Abs, einst mächtigster Mann der Deutschen Bank und auf seinem Gebiet damals ebenso mächtig wie Piëch heute, sagte über die Aufsichtsräte geringschätzend, es sei leichter eine wütende Wildsau an deren eingeseiften Schwanz festzuhalten als einen Aufsichtsrat in Haftung zu bringen. Keine Haftung bedeutet indes auch, dass es wenig konkrete Macht gibt. Wie es sich für eine anständige Familie, die viel Geld geerbt hat, gehört, gibt es dem Vernehmen nach im Porscheclan durchaus Streit. Piëch meistert auch diese Familienrealität einigermaßen perfekt.
Das Land Niedersachsen ist entgegen der Intention der Konstrukteure des VW-Gesetzes ein Aktionär, der VW und Piëch aus der Hand frisst. Alle Ministerpräsidenten Niedersachsens waren lammfromm und zahm, wenn es um ihre Mitverantwortung für VW ging. Weder wollten sie sich als wirtschaftliche Versager outen noch Haftung übernehmen, noch fühlten sie sich in der Lage sich in die Mitgestaltung des Konzerns adäquat einzuarbeiten. Und die niedersächsischen Regierungen waren wahrscheinlich mehr damit beschäftigt unter keinen Umständen in den Ruch zu geraten den Konzern beschädigt zu haben, statt das ihre dazu beizutragen, dass VW weiter wächst. Auch die Arbeitnehmervertreter, mächtiger als in einem durchschnittlichen DAX-Konzern, haben wahrscheinlich stets das Status quo-Denken in den Vordergrund gestellt, statt dynamisches Risikodenken zu fördern.
Piëch hielt in seinem Salzburger Domizil Hof
Das größte Manko des Ferdinand Piëch ist sein Alter. Piëch wurde am letzten Freitag 78 Jahre alt. Großkonzerne, oder vielleicht sollte man sagen kleine Staaten, um ein mehrfaches größer als beispielsweise Luxemburg mit seinem ewigen Jean Claude Juncker, sind immer dann schlecht aufgestellt, wenn es für eine Ein-Mann-Führung keinen Nachfolger gibt, der die Kontinuität garantiert. Natürlich gibt es Persönlichkeiten, die die fachliche Eignung hätten oder erwerben könnten, Piëch zu ersetzen, aber Piëch ist eben nicht nur Fachkompetenz, sondern Piëch verkörpert ganz wesentlich die Geschichte – und ist das Zentrum der Machtstruktur bei VW.
Der König ist tot, es lebe der König, das ist eine Menschheitserfahrung, aber die Regel gilt nicht immer, und vielleicht nur in Ausnahmefällen. Weder die Rechtsmacht des oberaufsehenden Gesellschafters und De-facto-Geschäftsführers ist in dieser Kombination übertragbar, noch ist das persönliche, nennen wir es Charisma des Ferdinand Piëch übertragbar, noch ist die Porsche-Legende, die in Ferdinand Piëch lebt, übertragbar. Der Porsche-Clan wird von Generation zu Generation immer größer, Piëch selber hat 12 Kinder. Und eine erneute Zweitgründung wie VW sie mit der Privatisierung Anfang der sechziger Jahre erlebte, die die Dinge völlig neu durcheinander würfelte, kann es kein zweites Mal geben. Dies alles weiß das mächtige Präsidium, also quasi der Aufsichtsrat des Aufsichtsrates im VW-Konzern sehr genau.
Es war bezeichnend, dass Piëch, nachdem er den bis dahin fest im Sattel sitzenden Martin Winterkorn vor zehn Tagen über die Medien kurz angeschossen hatte, letzte Woche feudal in seinem Salzburger Domizil Hof hielt und die Mitglieder seines Präsidiums, die sich in der Sache gegen ihn stellten, bei sich zuhause versammelte. Zufällig handelt es sich um eine Wolfsburger Firma und der Arbeitsplatz, auch des Führungspersonals, liegt in Wolfsburg. Aller Welt scheint es jedoch ganz selbstverständlich, dass Piëch die faktische Geschäftsführung kurzerhand nach Österreich verlegte.
Die Frage, warum Mister VW den von ihm wie einen Adlatus behandelten Martin Winterkorn aus dem Konzern entfernt wissen will, hat aus dem Munde von Piëch bisher keine Antwort gefunden. Sind es eher dynastische Überlegungen Ferdinand Piëchs, der dem Vernehmen nach seine Nachwelt mit sonderbar erscheinenden umfangreichen Testamenten und testamentarischen Regelungen beglücken will, so darf seine Frau offenbar nach seinem Tod nicht mehr heiraten, will sie nicht einen wesentlichen Teil ihrer Erbmacht verlieren ( ob das vor den obersten Gerichten Bestand haben kann?). Oder handelt es sich um rationales Kalkül dergestalt, dass Piëch den Vorstandsboss Winterkorn nicht mehr für VW 4.0-tauglich erachtet?
Wie auch immer, das Gewerkschafts-SPD-Lager im VW-Aufsichtsrat ist unmittelbar nach der Salzburger Solidaritätsbekundung für Winterkorn eingeknickt und hat sofort damit begonnen auch wieder ganz lieb zu Piëch zu sein, dem man doch soeben dem Anschein nach eine ungewöhnliche Niederlage zugefügt hatte.
Piëch selber hatte der Solidaritätsadresse an Winterkorn zugestimmt, und mehr als eine Solidaritätsadresse ist aus dem Aufwand der Sondersitzung des Präsidiums in Salzburg nicht herausgekommen. Die überwiegend in den Medien und der Fachpresse vertretene Meinung, dass der „Alte“, wie Piëch intern auch genannt wird, eigentlich weg muss und über das Bein, das er sich selber gestellt hat, auch gestolpert wäre, hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Fakt ist: Winterkorn ist angezählt.
Piëchs inszenierter, von der Öffentlichkeit programmgemäß ausgeführte Schuss gegen Winterkorn hat gesessen
Winterkorn ist angezählt. Das wussten die Präsidiumsmitglieder, es muss so etwas Ähnliches wie Panik in Salzburg geherrscht haben. Der kommode SPD-Ideologe, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, der in der Landespolitik einige Veränderungen durchsetzt, deren Langfristnutzen noch lange nicht erwiesen ist, scheint vor VW und Piëch zu zittern. Der größte Steuerzahler, Hauptarbeitgeber seines Landes soll bitte bitte nicht aus dem Ruder laufen, möglichst überhaupt keine Probleme machen und möglichst viel zur Finanzierung ideologischer Projekte beitragen. Alles soll am liebsten still seinen gewohnten Gang nehmen. Und schließlich: Die Landesregierung versteht doch überhaupt nichts vom Autogeschäft und möchte deshalb auch nicht in die Niederrungen der Geschäftsführung hinein gezogen werden. Schicke Aufsichtsratssitzungen sind zwar allemal nach Genossengeschmack, aber bitte keine Verantwortung und keine Haftung und bitte keine Turbulenzen, Herr Piëch!
Bereits mit seinem Nebensatz, dass er auf „Distanz“ zu Winterkorn gegangen sei, hat Piëch bereits ein Maximum an Wirkung erreicht. Niemand, weder Piëch noch seine Kontrahenten im Präsidium, will, dass VW Schaden nimmt. Ergo sind die Handlungsspielräume der Präsidiumsmitglieder entsprechend dem Kalkül des Ferdinand Piëch klein. Piëch hatte nicht die Möglichkeit, alle Entscheider klein bei klein, einen nach dem anderen, „zur Seite zu nehmen“ und zu sagen, lasst uns mal den Winterkorn gemütlich austauschen. Winterkorn hat schließlich VW erfolgreich geführt und sich viele Freunde im Konzern gemacht. Und sein Vertrag läuft noch.
Insofern blieb, wenn er, Piëch, den VW-Boss Winterkorn loswerden will, nur die Technik des öffentlichen Paukenschlages. Zur Schadenbegrenzung oder besser zur Schadenbegrenzung auf Zeit gehörte es, dass nun alle, inklusive Piëch selber, die Botschaft nach außen senden: VW hat einen Boss und der heißt Winterkorn und Basta. Aber dieser Schritt allein ist überhaupt noch kein Sieg Winterkorns. Das ist doch relativ durchschaubar. Piëch hat jetzt Zeit seinen Präsidiumsmitgliedern klar zu machen, warum er Winterkorn an der Spitze von VW austauschen möchte. Und Piëch hat sich Gehör verschafft. Der Vertrag von Winterkorn läuft, Solidaritätsadresse hin oder her, Ende 2016 aus. Dann steht Winterkorn kurz vor Vollendung seines 70. Lebensjahres. Selbst wenn Winterkorn, was auch in Rede steht, etwa im Februar kommenden Jahres eine vorzeitige Vertragsverlängerung angeboten bekäme, würde das unter den gegebenen Umständen nicht allzu viel bedeuten. Wenn es um die Besetzung des Chefpostens geht, sind Großkonzernen auch ein paar Dutzend Millionen Euro Abfindung im Zweifel wurscht. Solange ein Geschäftsführer Geschäftsführer ist, soll er seine Aufgabe aus der Position der Stärke heraus ausfüllen. Das hindert Niemanden diesen Geschäftsführer trotzdem, notfalls auch geplant, von Knall auf Fall zu entlassen und einen Nachfolger zu präsentieren und zu implementieren, wenn die Dinge entsprechend liegen. Wenn Piëch gute Argumente für seinen nach außen hin überraschenden Schritt hat, und einiges spricht dafür, dass er solche Argumente vorzubringen hat, dann kann die Entwicklung ohne Weiteres darauf hinauslaufen, dass sich im Präsidium die Meinung durchsetzt, jemanden Neues an die VW-Spitze zu setzen.
Klar, Piëchs Vorsitz im Präsidium des Aufsichtsrates neigt sich vorerst dem Ende. Die Idee, dass Winterkorn ab 2017 frei wäre und dann Piëchs Aufsichtsratsmandat übernehmen könnte, liegt aus datumstechnischen Gründen zwar nicht völlig neben der Sache, aber dass Piëch jetzt einfach nur einen Wettbewerber für den nächsten Turn des Präsidiumsbosses rechtzeitig aus dem Weg räumen wollte, erscheint dagegen weniger plausibel. Unabhängig davon, dass Piëch als Nebeneffekt sicher stets potenzielle Störer seines ausgeprägten Machtstrebens rechtzeitig beiseite zu schieben bemüht war, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass er jetzt allein deswegen auf Distanz zum amtierenden VW-Boss gegangen ist.
Es ist ohnehin eine Unsitte, wenn gewesene Vorstände nahtlos zu Aufsehern werden und damit immer auch zu Aufsehern über den möglichen Mist, den sie in ihrer eigenen Vergangenheit als Geschäftsführer möglicherweise gebaut haben. Gerade ein Großaktionär wie ein Bundesland, das dem öffentlichen Recht verpflichtet ist, sollte nicht den bequemsten Weg gehen, sondern seine Macht für eine unabhängige und unbelastete Kontrolle einsetzen.
Also: Heute ist Winterkorn nur noch Boss bis Ende 2016 und noch lange nicht Chef des mächtigen Präsidiums. Totgesagte leben länger. Wer Piëch jetzt vorschnell abgeschrieben hat, verkennt die realen Machtverhältnisse. Klar, Piëch kann sich, wie es so schön heißt, jetzt verzockt haben; das Risiko ist er sicher bewusst eingegangen, aber die Chancen, dass er VW, als Aktionär ohnehin, noch eine Weile auf dem Posten des höchsten Aufsehers über den Konzern begleitet, stehen alles andere als schlecht. Und Winterkorn steht unter Druck jetzt zu beweisen, dass er auch für die Zukunft der richtige Mann ist. Die Chance allerdings sollte man ihm, solange er VW-Boss ist, auch uneingeschränkt lassen.